17. charmolypi

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(n.) „Freude schaffende Trauer"; eine Mischung aus Glück und Traurigkeit

Orlando wollte es sich nicht eingestehen. Das heißt, er suchte einfach krampfhaft nach einer anderen, viel logischeren Erklärung für das Gefühl, das sich langsam aber stetig in seinem Inneren ausbreitete.

Warum um alles in der Welt sollte er auch eifersüchtig sein? Es gab gar keinen Grund dafür, dass sich etwas in seiner Brust zusammenzog, jetzt, wo er Minahil und Tala beobachtete, die ihm beim gemeinsamen Abendessen gegenüber saßen.

Die beiden hatten sich am gegenüberliegenden Kopfende der Tafel niedergelassen. Bei einander untergehakt waren sie durch die riesigen Flügeltüren des Speisesaals geschlendert gekommen, nur um sich dann kichernd hinzusetzen.

Dabei hatten sie Orlando nicht einmal wahrgenommen. Und jetzt steckten sie schon die ganze Zeit die Köpfe zusammen und tuschelten.

Die Gabel in Orlandos Hand hatte gefährlich angefangen zu wackeln. Sein Weinglas hatte die letzte Viertelstunde nicht überlebt und irgendwann war ein Kellner-Androide herbeigerollt, nur um die Fondue-Spieße außer Reichweite Orlandos zu befördern.

Er selbst hatte das gar nicht bewusst wahrgenommen. Sein Blick klebte einfach nur an Tala und ihrer neugefundenen Verbindungspartnerin.

Wie hatte Tala ihre Meinung bloß so schnell ändern können? Hatte sie nicht stets den Tag gefürchtet, an dem diese Gottverdammte Mitteilung sie erreichen würde?
Und hatte sie nicht, kurz nachdem sie die Nachricht erhalten hatte, in seinen Armen geweint? Ja, war es nicht Orlando gewesen, der sie gehalten hatte und ihr versprochen hatte, alles würde gut werden?

Aber jetzt war da ja diese...Jetzt war da ja Minahil, mit der sie sich ja so unglaublich gut verstand, der sie unbedingt alles anvertrauen musste und mit der sie redete, als hätte sie die letzten zwanzig Jahre keine sozialen Kontakte mehr gehabt.

Orlando seufzte.

Vermutlich war er wirklich eifersüchtig. Denn irgendwo, tief unter dieser unangenehmen Lage an Gefühlen, wusste er, dass seine Wut gegenüber Tala nicht gerechtfertigt war.

Tala fehlte schon viel zu lange weibliche (und vor allem menschliche) Gesellschaft. Natürlich musste es schrecklich für sie sein, immer nur mit Orlando rumzuhängen.

Denn Orlando hatte ja für vieles Verständnis. Aber Dinge wie Shoppen, Make-Up und attraktive Schauspieler spielten nicht in seiner Liga.

Wenn überhaupt sollte er sich doch freuen, dass Tala und Minahil sich so gut verstanden. Schließlich – so ungerne er das denken wollte – war diese Allianz auch politisch nicht ganz unbedeutend.

Orlando war so in seinen eigenen Gedanken versunken, dass er gar nicht bemerkte, wie Tala ihn rief.

Erst als der Kellner-Androide von zuvor ihm sachte auf die Schulter tippte, riss er sich aus seiner Trance.

„Haben wir heute noch irgendetwas vor?", fragte sie.

Es war nicht unbedingt der Gesprächsstarter, von dem Orlando geträumt hatte. Aber er würde damit arbeiten müssen.

„Nein, in deinem Terminkalender steht nichts." Er putzte sich mit der Serviette den Mund, um Zeit zu schinden. „Aber was ist mit dir, Minahil? Solltest du nicht langsam...zurück?"

Ihm war bewusst, wie direkt und unfreundlich das war, aber ehrlich gesagt konnte er sich gerade auch nicht dazu durchringen, einen weniger offensiven Ton anzuschlagen.

Minahil war es offensichtlich nicht entgangen. Ihr Lächeln wirkt nicht freundlich, sondern bestenfalls gezwungen.

„Nein, ich habe schon mit meinen Leuten telefoniert. Alles Wichtige ist arrangiert."

Diesmal war es Orlando selbst, der die Gabel so weit weglegte, dass er nicht in Versuchung kam.

„Das freut mich", presste er zwischen den Zähnen hervor.

Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben, war Orlando reichlich froh, dass Tala den Unterton seiner Stimme nicht weiter deuten würde.

Er war heute Abend wirklich nicht in der Stimmung, sich mit Minahil anzulegen. Die hingegen wirkte so, als würde sie sich liebend gerne auf ein hitziges Wortgefecht einlassen.

„Arthur", lenkte Orlando die Aufmerksamkeit des nächsten Androiden auf sich.

„Ja, Herr?"
Orlando warf den zwei Frauen einen beifälligen Blick zu. Sie hatten aufgehört zu tuscheln.

„Ich werde das Abendessen in meinem Arbeitszimmer einnehmen."
Beim Aufstehen fegte er ein Origami-Arrangement vom Tisch. Mit hektischen Bewegungen versuchte er, den Papierkranich aufzufangen. Zwei Androidinnen taten es ihm gleich und beugten sich (etwas graziöser als er) hinab. Dabei verhedderte sich sein Halstuch in der Pastazange, die eine der beiden in der Hand hielt.

Dadurch erschrak Orlando so, dass seine Hand hochschnellte um sich am Tisch festzukrallen. Aber er warf lediglich ein Weinglas um.

Eine unangenehme Stille hatte sich im Speisesaal breit gemacht.

Orlando war sich fast sicher, dass er Minahil lachen hörte. Dafür saß Tala wie versteinert auf ihrem Stuhl.

Orlando bemerkte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss.

Ein Räuspern war sein kläglicher Versuch Würde zu bewahren.

So einfach würde er sich nicht geschlagen geben.

*

Kurz nach Orlandos plötzlichem Aufbruch hatte sich etwas an der Luft im Speisesaal geändert.

Tala konnte es nicht erklären. Andere Menschen würden wohl das Wort „Atmosphäre" benutzen, um zu beschreiben, was sich eigentlich geändert hatte. Aber wenn Tala an das Wort „Atmosphäre" dachte, dann dachte sie dabei an die unsichtbare Hülle, die diesen Planeten umgab und ihm vor dem Beschützte, was sich da draußen im All alles so herumtreiben mochte.

Sie schreckte hoch, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Vor einigen Jahren hätte sie noch geschrien oder nach der Person geschlagen – nach Orlandos Benimm-Crashkursen war sie deutlich vorbereiteter auf solche Situationen.

Bedacht vorsichtig drehte sie sich zu der Person herum. Minahil stand hinter ihrem Stuhl, einen zögerlichen Ausdruck auf dem Gesicht. „Ist...alles okay?"
Tala antwortete nicht sofort. Es gab ja auch keinen tieferen Grund, auf eine Frage zu antworten, die nichts anderes als ein Ja zuließ.

Sie schob ihren Stuhl ein Stück zurück, um besser vom Tisch aufstehen zu können. Ihr Blick ruhte nicht ganz auf Mina und nicht ganz auf der Säule hinter ihr.

„Ich zeige dir mal alles, wie findest du das?"

Falls Mina zögerte, fiel es Tala nicht auf.

*

Dieser Raum wurde fast nie genutzt, so viel wusste Tala. Und wenn er genutzt wurde, dann meist von Leuten, die sich vor dem Rest der Welt verstecken wollten. Von Leuten, die ein ganz kleines bisschen Freiheit – eine kurze Auszeit – von dem ganzen Tam-Tam da draußen brauchten.

Dieser Raum wurde nicht für einfache Recherchearbeit benutzt, zumindest nicht, wenn es sich dabei um eine seriöse Recherche handelte. Dafür waren die Computer viel zu veraltet; die Tische viel zu staubig.

Also sollte es sie nicht überraschen, dass sie auf dem Bildschirm etwas las, das sie nicht lesen wollte.

Klar und deutlich stand in der Suchleiste ein Name, den sie mittlerweile fast so gut kannte, wie ihren eigenen:

Minahil Amir Rahman

Minahil neben ihr hob eine Braue. „Hey, das ist mein Name." Ein Lachen lag ihr in der Stimme. „Hast du nach mir gesucht?
Tala schüttelte den Kopf. Nein, sie hatte das nicht. Aber neben Tala gab es im ganzen Palast wohl nur noch eine einzige Person, die diesen Raum auch für so einfache Suchanfragen aufsuchen würde.

Die Tatsache, dass er ihr nichts davon anvertraut hatte, tat schrecklich weh.

Hielt er sie denn für so naiv, dass er sie nicht ihre eigenen Entscheidungen treffen ließ?
Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter. Dann eine Stimme im Ohr: „Tala? Ist...alles okay? Du zitterst ja?"
Wenn sie ganz ehrlich war, war wohl überhaupt nichts okay.

Connected - Die VerbindungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt