12. insouciant

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insouciant

(n.) ohne Sorgen


Am Morgen, als sie ohne jegliche Verspannungen oder steife Glieder, und ebenso ohne Kopfschmerzen, erwachte, musste Minahil sich leider eingestehen, dass die Betten im Regierungspalast um einiges komfortabler waren, als die Feldbetten im S.E.I-Hauptquartier. Das würde sie natürlich nie zugeben. Und erst recht nicht gegenüber ihrer Verbindungspartnerin, die sich rein zufällig als die japanische Präsidentin entpuppt hatte.

Nach dem Aufeinandertreffen der beiden in der vorigen Nacht, hatte es nur wenig Sinn ergeben, Minahil wieder nachhause zu schicken. Es war die Präsidentin selbst gewesen, die Minahil gebeten hatte, doch zu übernachten.

Zunächst war Minahil nur reichlich widerwillig geblieben, doch es war wohl vor allem der Schmerz in ihrem Körper gewesen, der sie letztendlich zum Bleiben gebracht hatte.

Stöhnend drehte sie sich zur Tür herum, die, begleitet von gedämpftem Getuschel, geöffnet wurde. Eine ganze Schar junger Damen mit Tabletten und Körben in den Händen flutete den Raum.

„Guten Morgen, Miss Rahman!", trällerte eine blonde Frau, die zum Fenster hinüberrollte – ah, es war also eine Androidin – um die Vorhänge zur Seite zu ziehen.

„Morgen?" Minahil warf einen fast reflexartig Blick in Richtung Nachtschränkchen. Sie hatte gehofft dort eine Uhr zu finden – mit wenig Erfolg. „Ähm, wie spät ist es bitte?", fragte sie also, während sie sich aufsetzte und sich den Schlaf aus den Augen rieb.

„Punkt zehn Uhr morgens, Miss", antwortete dieselbe Androidin, die auch zuvor mit ihr gesprochen hatte, „Das morgendliche Frühstück ruft. Präsidentin Tala wünscht sich, dass sie ihr beiwohnen."
Ihr beiwohnen? Wer sagte heute noch sowas?

„Äh. Okay." Nicht okay, aber was sollte sie schon sonst sagen? „Warum denn das?"
Die Androidin zuckte ihre Schultern. Minahil musste feststellen, dass ihre Gestik erstaunlich menschlich wirkte. „Nachfragen zu stellen ist nicht unser Arbeitsbereich."
Minahil nickte. Doch keine Menschen.

„Ja, ist gut. Ich meine, was soll ich machen?"
Eine andere Androidin, diese hatte kurze braune Haare und wirkte mechanischer als die blonde, kam ans Bett herangefahren. „Zunächst einmal sollten Sie sich wohl anziehen, dann sehen wir weiter."

*

Obwohl Mina reichlich irritiert und definitiv genervt von der Tatsache gewesen war, dass sie von einer ganzen Kolonne Androidinnen flankiert zum Speisesaal geführt wurde, musste sie sich nach der halben Wegstrecke eingestehen, dass sie doch ganz dankbar war. Der Regierungspalast war nicht nur um einiges größer, als man es von außen erahnen mochte; seine Gänge waren auch so verwinkelt, dass Minahil sich sicher war, alleine hätte sie sich hier drin fürchterlich verlaufen.

Vermutlich sollte sie nicht so aufgeregt sein. Sie hatte Tala Reyes doch bereits gestern Nacht getroffen. Und eigentlich hatte die Präsidentin einen ganz netten Eindruck gemacht. Ein wenig sonderbar vielleicht, aber das hatte Mina ja zuvor schon gewusst.

Deswegen war es vermutlich nicht notwendig gewesen, den gesamten Weg (bestimmt an die zwei Kilometer, da war sie sich sicher) damit zu verbringen, sich eine Begrüßung und unverfängliche Themen für Small Talk zurecht zu legen. Und vermutlich wäre es ebenso wenig notwendig gewesen, einen leichten Herzinfarkt zu erleiden, als die Flügeltüren zum Speisesaal geöffnet wurden.

Da saß sie.

Minahil hätte gerne ihre Beobachtung von gestern – die, dass die Präsidentin wirklich atemberaubend hübsch war – gerne wiederholt, doch war an dem morgendlichen Anblick der jungen Frau nichts sonderbar Faszinierendes. Vielleicht lag es daran, dass Tala Reyes' verstrubbeltes braunes Haar den Anschein erweckte, sie habe sich im Heuhaufen gewälzt. Vielleicht lag es aber auch einfach an dem faltigen Bademantel, den die Präsidentin über ihrem Pyjama trug.

Sie sah nicht mal auf, als Minahil den Raum betrat. Stattdessen hatte sich Tala Reyes tief über ihr Rührei gebeugt und schien abwesend dabei zuzuhören, wie ein junger Mann ihr eine Art Vortrag hielt. Dieser Mann...

Mina erwischte sich dabei, wie sie ihn mehr beäugte, als ihr lieb war. Hochgewachsen und dunkle Haut. Sie wusste, dass er ihr bekannt vorkam. Talas Berater? Ja, stimmt, das war Talas Berater.

Jemand gab ihr einen Schubs. Es war eine der Androidinnen, die sie hierher geführt hatten.

Just in dem Moment schauten Tala Reyes und auch ihr Berater (wie war sein Name noch gleich?) auf. Beide richteten ihren Blick auf Mina, die sich irgendwie mit einer Hand am Stuhl abgefangen hatte und jetzt, etwas hilflos, umher sah.

Tala erhob sich und kam auf sie zugelaufen. „Guten Morgen, hast du gut geschlafen?"

Mina sah sie überrascht an. „Glaube schon?"

Der Berater der Präsidentin kam zu den beiden hinüber. Er legte Tala eine Hand auf die Schulter und sah über diese hinweg Minahil an.

„Habe ich etwas verpasst?" Minahil fand er klang vergleichsweise entspannt dafür, dass da eine wildfremde Person in dem Speisesaal des Präsidentenpalastes stand.

„I-Ich, äh, also ich bin, ja..." Mina stammelte sich einen zurecht und schämte sich selbst dafür. Sie konnte sich selbst nicht so recht erklären, woran es lag, doch irgendwie war es ein seltsames Gefühl, von gleich zwei Personen angestarrt zu werden.

Tala drehte sich zu ihrem Berater herum und so etwas wie ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Orlando, das ist Minahil."
Orlando und Minahil lieferten sich ein Blickduell. Orlando, so empfand Mina, wirkte, als wüsste er nicht recht, ob er weinen oder schreien sollte. Beides nicht aus Freude, sondern aus Verzweiflung.

Sie selbst fühlte den unweigerlichen Drang, die Beine in die Hände zu nehmen und zu fliehen.

„Hi?" Zögerlich hob Mina die Hand zu einem Winken. Orlando erwiderte es nicht. Stattdessen wandte er sich der Präsidentin zu und lehnte sich vor, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern.

Mina spürte, wie wenig willkommen sie hier war. Sie wusste sich nicht anders zu helfen, als ihren Blick über die kunstvoll verzierte Decke des Speisesaals gleiten zu lassen.

„Orlando freut sich sehr, dass du hier bist", sagte Tala plötzlich, wie aus dem Nichts heraus.

„Wieso fällt es mir so schwer, dir das zu glauben?", lautete Minahils zögerliche Antwort. Und zu ihrer absoluten Verwunderung war es Orlando, der daraufhin anfing zu lachen.

„Vielleicht weil Talas Aussage nicht der Wahrheit entspricht." Er reichte Minahil die Hand. Mina nahm sie. „Orlando Bryant. Ich bin Talas Berater, aber ich habe den Eindruck, das wissen Sie bereits."

Scheinbar wussten weder Orlando, noch Minahil so richtig, was sie als nächstes sagen sollten. Somit war es Tala, welche die Situation gekonnt entschärfte.

„Wir sollten uns alle ein verlängertes Frühstück gönnen, findet ihr nicht auch?"
Orlando bestätigte, dass das eine ausgezeichnete Idee sei und nahm rasch am Tisch Platz.

Minahil wollte es den beiden gerade gleich tun, da klingelte ihr Handy. Sie zog es aus ihrer Tasche, stellte ernüchtert fest, dass sie neben einer 5%-Akku-Warnung auch eine Textnachricht bekommen hatte und öffnete diese:

Minahil, wir benötigen die Adresse deines Bruders Djadi. Es geht um die Nationale Sicherheit.

- Hisao Brasher

Unweigerlich fragte Minahil sich, was ihr Bruder wohl verbrochen haben musste, dass es jemanden dazu veranlasste „Nationale Sicherheit" groß zu schreiben. Dann ging ihr ein Licht auf.

Zum Glück war Djadis Adresse nicht allzu lang.










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