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ASHBEL

Ash wusste vom allerersten Moment an, als er Kee das erste Mal gesehen hatte, dass er mit ihm befreundet sein wollte. Er konnte nicht genau sagen, warum - vielleicht war es einfach die Art und Weise, wie sich der andere Junge hielt, mit so viel Selbstbewusstsein, als könnte ihm nichts etwas anhaben, als wäre er ein strahlender Stern und niemand, absolut niemand, könnte ihn vom Aufgehen oder Untergehen abhalten. Oder es war das neugierige Schimmern in seinen hellen Augen, als sie das Foyer in Betracht genommen hatten, als hätte er nicht im geringstem Angst. Als ob er nicht genau wüsste, warum er dort war.
Ash hatte sich in dem Moment selbst gefragt, von den Treppenstufen hinunterschauend, den neuen Fremden mit einem Funken Interesse beobachtend, was ist mit seinen Eltern passiert? Sind sie auch tot? Aber dann blieben Kees Augen auf Ashs stehen, als ob er seine Gedanken gehört hätte, und dann hatte Ash es gewusst. Er hatte es einfach gewusst.
Von dem Moment an wurden sie beste Freunde. Und sogar mehr: Es war etwas, das Ash nie erklären könnte. Es war, als hätte er einen nicht-so-identisch-aussehenden Zwillingsbruder, aber irgendwie nicht so ganz. Etwas an dem Wort ‚Bruder' passte ihm nicht ganz, auch wenn er sich nicht erklären konnte, wieso. Aber es fühlte sich an, als hätte er einen Seelenverwandten. Als ob sie sich eine Seele teilen würden. Eine Seele, zwei Körper.
Ash hatte nie verstanden, warum Kee ihn seinen Freund sein ließ. Genau das war es nämlich, wie es sich anfühlte - nicht als ob Ash sich ausgesucht hätte, sein Freund zu sein, sondern als ob Kee ihn sein Freund lassen würde. Als wäre es eine Ehre. Und für Ash fühlte es sich definitiv wie eine Ehre an, deswegen hatte er sich nie beschwert. Ash hatte nie eine Wahl.
Einmal hatte Ash Kee genau diese Frage gestellt. Sie waren beide um die zehn Jahre alt, schritten barfuß durch das hüfthohe Gras auf den Ländereien hinter dem Waisenhaus. Eigentlich durften sie sich nicht so nah am Wald aufhalten, aber das kümmerte sie nicht. Hatte es nie.
„Weil ich weiß, dass du mich nie hängen lassen würdest. Nie", hatte Kee geantwortet, nicht bemerkend, dass Ash nicht verstand, was er damit meinte. Ash stolperte durch das Gras hinter Kee her, versuchte, ihn einzuholen. Auch wenn sie beide im gleichen Alter waren, schien Kee immer ein wenig größer zu sein als er. Nicht viel, nur ein paar Zentimeter, aber diese paar Zentimeter gaben ihm längere Beine und manchmal, wenn Kee so drauf war, in Gedanken verloren, auf nichts achtend, dann schien er sogar Ash und seine nicht so langen Beine zu vergessen.
„Was meinst du?", fragte Ash, schaute Kee von der Seite an. Ash hat sich schon immer gefragt, ob Mädchen Kee als schön empfanden. Mit diesen dicken, dunklen, rostbraunen Locken, die in der Sonne wie Kupfer schienen, diesen dunkelgrünen, nachdenklichen Augen und diesen kleinen, hellbraunen Sommersprossen, die seine blasse Haut auf seiner Nase und seinen Wangenknochen bedeckten, war er sicherlich ein Junge, dem man einen zweiten Blick zuwerfen würde, oder? Ash nahm an, dass er gutaussehend war. So gutaussehend, wie ein zehnjähriger Junge sein konnte. „Ich würde dich nie hängen lassen", fügte Ash hastig hinzu. Kee schenkte ihm eines seiner seltenen Lächeln, ein tiefes Grübchen zeigte sich in seiner linken Wange. Es war eines dieser Lächeln, das die ganze Welt erhellen konnte. Ashs ganze Welt.
„Ich weiß", hatte Kee simpel gesagt und Ash hatte sich in diesem Moment geschworen, dass er Kee niemals in seinem ganzen Leben hängen lassen würde. Niemals. Er würde sich lieber direkt ins Gesicht schlagen lassen.
Das war es, woran Ash etwa fünf Jahre später dachte, als er eines morgens entdecken musste, dass Kees Zimmer leer war. Ash konnte Ailis nicht erklären, was es war, dass er genau wusste, ohne es wirklich zu wissen, dass Kee verschwunden war. Kee hätte auch einfach im Badezimmer oder irgendwo draußen sein können. Aber Ash hatte so das Gefühl, dass das hier anders war. Es war fast so, wie das Betreten eines Raumes und sofort zu wissen, dass der Bewohner tot war. Dass seine Seele weg war, nur die Schale in Form eines Körpers zurücklassend. Und genau wie jemand, der den Tod spüren konnte, wusste Ash, dass Kee verschwunden war und nicht wiederkommen würde. Und es tat weh.
Ash stand wie festgefroren auf der Türschwelle von Kees Zimmer, starrte auf das offene Fenster und die ordentlich gefaltete Decke am Fuße des Bettes. Es war offensichtlich, dass Kee nicht darin geschlafen hatte. Etwas begann an Ashs Herz zu ziehen, genau unter seinem Brustkorb. Es war ein stumpfer Schmerz, der immer stärker und stärker wurde, bis er dachte, er würde bewusstlos werden. Die Realisation, dass Kee ihn verlassen hatte, krachte in Form einer Welle aus Backsteinen über ihm ein, ließ ihn luftschnappend zurück. Seine Lungen fühlten sich an, als wären sie aus Feuer.
Ohne ein Wort - ohne auch nur einen Blick in Ailis' Richtung, die in der Tür neben Ash stand - stürmte er den Flur hinunter, ignorierte Ailis' Rufe, die ihm bis nach draußen zu folgen schienen. Ash hieß die kühle Luft auf seiner heißen Haut willkommen und versuchte, zu atmen. Er versuchte und versuchte und versuchte, und endlich atmete er und atmete.

FAEVEN - Der verlorene JungeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt