KEIGHAN
Kee musste sich zurück in der Menschenwelt erst einmal für einige Stunden lang in einem nahegelegenem Wald verstecken. Er konnte nicht sofort die Energie aufbereiten, die er für die Anpassung seiner Ohren gebraucht hätte - in seiner Welt wäre das kein Problem gewesen, dort flimmerte genug Magie herum, aber in der Menschenwelt gab es kaum welche. Woher denn auch? Es war nicht so, als müsste Kee sich hier vor irgendwelchen Baumnymphen fürchten, die ihn auffressen wollten. Noch einer der Gründe, warum er die Menschenwelt lieber mochte, als seine eigene. Hier lauerten keine düsteren Kreaturen hinter jeder Ecke, hier musste er sich nicht auf unvorhersehbare Gefahren einstellen.
Er hasste seine Welt.
Aber all diese Gedanken dienten nur dazu, ihm von seinem großen Problem abzulenken: Was sollte er nun tun? Kee konnte nicht zurück in seine Welt ohne Ashs Kopf unterm Arm zu haben, das war sicher. Selbst wenn er es irgendwie schaffen würde, unbemerkt hinein zu gelangen, würde Illithor es irgendwann herausfinden und ihn an den König verraten. Und dann würde man ihn des Verrats beschuldigen, foltern und enthaupten. Es gab sicherlich Schöneres als das. Aber Kee konnte auch nicht zurück ins Waisenhaus, wo Ash sicherlich auf ihn wartete. Er konnte nicht zurück zu Ash, niemals. Er musste soweit weg von ihm, wie es nur möglich war, nur so war Ash einigermaßen in Sicherheit.
Der kleine Eisenkrieger pikste durch die Tasche seiner Jeans und Kee kramte ihn heraus, drehte ihn gedankenverloren zwischen seinen Fingerspitzen. Die unterschiedlichen Farben der Augen erinnerten ihn wieder an Ash. So wie eigentlich fast alles. Er wünschte sich in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als ihn noch ein letztes Mal zu sehen. Ein einziges letztes Mal. Kee wusste, dass diese Gedanken, die er hegte alles andere, als gut waren, aber was sollte er tun? Ash war alles, was er kannte, alles was er wollte, alles was er brauchte. Bei ihm hatte er nie das Gefühl, anders zu sein, bei ihm fühlte er sich zu Hause, mit ihm fühlte er sich sicher. Ironisch, wenn man bedachte, dass Kee geboren wurde, um ihn umzubringen. Das Schicksal war noch hinterhältiger als Illithor.
Kee seufzte und erhob sich von dem harten, kalten Boden. Der Winter war nahe, das konnte er spüren. Es war nicht nur die eisige Kälte, der kühle Wind oder das Rascheln und Knistern der toten Blätter unter seinen Stiefeln; es war außerdem die Stimmung der Menschen, dieser düstere, kühle, unfreundliche Umgang miteinander. Wie sollte er die kalten Wintermonate alleine überleben? Und vor allem wo?
Kee seufzte wieder, steckte den kleinen Eisenkrieger zurück in seine Tasche und fasste sich prüfend an die Ohren – alles wieder normal. Keine spitzen Enden, die aus seinen dunklen Locken hervorschauten. Er zog sich die Kapuze seines Mantels wieder über den Kopf und suchte sich seinen Weg durch den Wald zurück in die Stadt. Mittlerweile wurde es wieder heller, die Sonne ging langsam auf. Das ergab Sinn. Es müssten mittlerweile ungefähr drei Wochen vergangen sein, seitdem er das Waisenhaus verlassen hatte. Kee hatte sich nicht lange in seiner Welt aufgehalten, es waren nur ein paar Stunden vergangen. Die Zeit funktionierte in seiner Welt anders als hier. Er könnte Tage in seiner Welt verbringen und wenn er wieder zurückkam, könnten schon Jahre in der Menschenwelt vergangen sein. Vielleicht war das mit einer der Gründe, warum Elfen deutlich länger lebten als Menschen.
Als Kee die Stadt erreichte, war die Sonne schon fast ganz aufgegangen. Die Stadt erwachte langsam zum Leben, die ganzen kleinen Bäckereien und Schlachtereien öffneten ihre Türen und Fenster, der Geruch von frisch gebackenem Brot durchströmte die noch leeren Straßen. Wie es aussah, hatte es in der Nacht gefroren. Die Dächer der Häuser glitzerten im Sonnenlicht, hier und da hörte Kee das geschmolzene Wasser an den Hauswänden hinuntertropfen. In der Ferne hörte er Kinder schreien. Sie erinnerten ihn an das Leben im Waisenhaus, an das Getümmel und das hektische Chaos am Morgen, wenn alle Kinder gleichzeitig aufgestanden sind. Ash hatte diese laute Unordnung morgens immer gehasst. Er hasste alles, was zu laut und zu hektisch war, es ließ ihn unbehaglich und bedroht fühlen. Aber Kee hatte es immer geliebt. Dieses Durcheinander, dieses Gefühl, nicht alleine zu sein. Er begann sich gerade zu fragen, ob es für Ash wohl schlimmer geworden war, morgens aufzustehen, als ihn das Geräusch von kleinen Schritten hinter ihm aufhorchen ließ. Kee huschte in die nächste schmale Gasse zu seiner rechten und spähte aus dem Schatten heraus auf die Straße. Er war sich nicht sicher, ob die Person ihn schon gesehen hatte, doch als er ein kleines Mädchen mit süßen, blonden Korkenzieherlocken entdeckte, das leise vor sich hin summte, atmete er erleichtert aus. Er hatte schon fast damit gerechnet, dass man ihn aus seiner Welt heraus verfolgt hatte. Aber dieses kleine Mädchen war keine von ihnen, das konnte er spüren. Er wartete im Schatten der Hauswand, bis sie an der Gasse vorbeigelaufen war, denn er wollte sie nicht erschrecken. Gerade als sie vorbeigelaufen war und er aus der Gasse hervorkommen wollte, hörte er wieder Schritte – diesmal schneller und deutlich schwerer.
„Jean! Jeanie!", flüsterte eine wütende Stimme und Kees Herz blieb stehen. Das konnte nicht sein. Aber sein Herz antwortete für ihn, in dem es plötzlich Takte schneller schlug. Es gab nur eine Person in dieser Welt, die das konnte.
„Ich hab dir gesagt, du sollst bei mir bleiben, oder? Verdammt, ich hätte dich einfach dalassen sollen", redete der Junge weiter, als wüsste er nicht, dass der Schmerz und die Sehnsucht in Kees Brust mit jedem weiteren Wort größer wurde. Es kostete ihm jede Faser in seinem Körper, sich davon abzuhalten, sich irgendwie bemerkbar zu machen. Ash irgendwie wissen zu lassen, dass er sich nur wenige Meter entfernt von ihm in einer Gasse versteckte.
„Ich bin doch hier, du siehst mich", antwortete eine junge, liebliche Stimme. Das Mädchen. Das musste Jean sein. Kee starrte an die Mauer gegenüber von ihm. Ash hatte nie mit anderen Kindern gesprochen. Nie. Es waren immer nur sie beide, niemand anderes. Hatte er ihn tatsächlich so schnell ersetzt?
„So hab ich das aber nicht gemeint und das weißt du", zischte Ash genervt. Genau in dem Moment lief er an der Gasse vorbei und Kee kamen die zwei Sekunden wie eine halbe Ewigkeit vor. Noch vor ein paar Minuten hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als Ash ein letztes Mal zu sehen. Doch jetzt, wo er einen Blick auf diese vertrauten, rabenschwarzen Haare werfen konnte, wo er einen kleinen Moment lang das Eisblau seines rechten Auges aufblitzen sah, jetzt, wo er beim nächsten Atemzug den vertrauten Geruch von Regen und Lavendel in der Nase hatte, wünschte er sich, er hätte Ash nie gesehen. Denn das machte es nur noch schwerer für ihn, seinem ehemals besten Freund den Rücken zuzukehren. Kee konnte sich nicht daran erinnern, sich jemals in seinem Leben so miserabel gefühlt zu haben.
„Du kannst mich jetzt nicht mehr zurückschicken, Ailis hat bestimmt schon bemerkt, dass wir verschwunden sind", erwiderte das Mädchen ungewöhnlich fröhlich.
„Ich kann dich immer noch hier irgendwo festbinden und zurücklassen", grummelte Ash und Kee kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er gerade genervt die Stirn runzelte.
„Nein!", rief das Mädchen plötzlich so laut, dass Kee zusammenzuckte. Im nächsten Moment ärgerte er sich darüber. Plötzlich stoppten ihre Schritte und es hörte sich an, als gäbe es ein kleines Gerangel. Kee riskierte einen raschen Blick hinter die Ecke und starrte auf die Szene vor sich. Ash stand mit dem Rücken zu ihm, die Haare zerzauster als sonst. Aber das war es nicht, was Kee mit einem Gefühl der Leere in seiner Brust zurückließ. Es waren die kleinen, dünnen Arme, die sich um Ashs Hüfte schlangen. Das Mädchen hatte ihr Gesicht fest an Ashs Bein gepresst und umarmte ihn, als wäre er ihre ganze Welt. Ash stand bloß da, die Arme hingen an seinen Seiten herunter, als wüsste er nicht, was er mit ihnen anfangen sollte. Er sah so verloren aus. Ein paar Sekunden verstrichen, in denen sich keiner der beiden bewegte. Dann, plötzlich, ganz zögerlich, hob Ash seine Hand und strich ihr langsam durch die dichten Locken, so vorsichtig, als hätte er Angst, sie würde unter seiner Berührung zerbrechen. Kee wünschte sich, er könnte Ashs Gesicht sehen. War der Ausdruck in seinen Augen genauso sanft, wie seine Berührung?
Kee konnte sich das nicht länger mit ansehen und zog sich in die Gasse zurück. Er lehnte seinen Kopf gegen die kalte Mauer und starrte mit leerem Gesichtsausdruck auf die gegenüberliegende Wand. Sein ganzer Körper fühlte sich kalt und taub an, fast so, als hätte man ihn mit Atiander vergiftet; einer Pflanze aus seiner Welt, die die Basis zu sämtlichen Heilungsmitteln bildet, bei der falschen Anwendung aber zu Halluzinationen und schließlich zum sicheren Tod führte.
„Bitte lass mich nicht alleine", hörte Kee das Mädchen nuscheln.
Es dauerte einen Moment lang, bis Ash ihr antwortete. „Werde ich nicht. Versprochen."
Es schmerzte ihn, ein Versprechen aus seinem Mund zu hören, das einst ihm galt. Aber das hatte er wohl verdient. Er konnte nicht wütend auf Ash sein, er hatte nichts falsch gemacht. Kee war derjenige, der ihn verlassen hatte. Und nun musste er damit leben, dass Ash einen Ersatz gefunden hatte. Was hatte er auch erwartet? Dass Ash für immer alleine bleiben würde? Ash war viel mehr wert als das, er verdiente die Welt. Und irgendwann musste es soweit kommen, dass das jemand anderes auch erkannte. Kee konnte nur hoffen, dass dieses Mädchen seiner Freundschaft auch würdig war.
Wenigstens war Ash in Sicherheit und das war alles, was zählen sollte.
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FAEVEN - Der verlorene Junge
FantasyKeighan und Ashbel waren wie Gold und Silber, Licht und Schatten, Feuer und Wasser, Tag und Nacht. Sie waren so unterschiedlich, wie es zwei Jungen nur sein konnten. Doch sie waren dazu auch eines: unzertrennlich. Bis Kee von einem Tag auf den ander...