KEIGHAN„Für Baumnymphen wirkt die Blüte der Bugriander wie Gift. Es wird sie aber nicht lange davon abhalten, euch zu töten. Jean hat eine der ihren verletzt", sagte Kee, ohne dem Jungen vor ihm eines Blickes zu würdigen. Er beugte sich zu dem kleinen, bewusstlosen Mädchen hinunter und wusste nach einer kurzen Berührung ihrer Hand, dass sie so schnell nicht wieder aufwachen würde. Und das hatte nichts mit den Baumnymphen zutun.
„Du musst sie hier rausbringen, wenn du willst, dass sie überlebt", sagte Kee monoton und stand wieder auf. Es brauchte alles, wirklich alles in ihm, um sich nicht anmerken zu lassen, was gerade in ihm vorging. Er vergrub seine zitternden Hände in den Taschen seiner Jeans, schloss seine Finger um den kleinen Elfenkrieger, dessen rechtmäßiger Besitzer genau vor ihm saß und bewegungslos zu ihm hochstarrte. Er konnte seinen Blick nicht erwidern.
„Keighan", wisperte der Junge atemlos. Es war nur ein Wort, und trotzdem zog sich Kees ganzer Körper vor Schmerz zusammen.
„Du musst sie hier rausbringen", sagte Kee noch einmal. Jede weitere Minute, die sie hier verbrachte, war lebensgefährlich. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt solange durchgehalten hatte.
„Kee... Du-"
„Ash, bitte", rutschte es ihm heraus. Er dachte, zu hören, wie Ash ihn bei seinem Spitznamen nannte, war unerträglich. Aber da hatte er sich getäuscht. Viel schlimmer war es, Ashbels Spitznamen auszusprechen. Es war, als würden damit sämtliche Erinnerungen, alle Gespräche zwischen ihnen – die sorglosen bei der alten Weide; die tiefsinnigen auf dem Dach des Waisenhauses; die schwachsinnigen, eingelullt zwischen Decken und Kissen in ihren Zimmern – auf seiner Zunge liegen und darauf warten, wieder über seine Lippen zu wandern. Aber so würde es nie wieder sein. „Bring sie hier einfach raus. Es ist hier nicht sicher. Für beide von euch."
"Ich verstehe nicht... Wie kannst du... Wo warst du?", stammelte Ashbel, ohne auf das einzugehen, was Kee gesagt hatte.
"Ich bin nicht hier, um zu bleiben, Ash."
"Du bist nicht hier, um zu...", wiederholte Ashbel seine Worte und brach ab. "Was zur Hölle soll das bedeuten?" Der Faeven-Junge richtete sich auf und plötzlich war das kleine Mädchen auf dem Boden für einen kleinen Moment vergessen.
Kee schaute auf. Es war das erste Mal seit über zwei Jahren, das erste Mal seit seinem Verschwinden, dass er Ashbel gegenüber stand und ihm direkt ins Gesicht schaute. Kee war nicht darauf vorbereitet, nicht im geringsten. Unter anderen Umständen hätte er Ash nie wieder gesehen. Doch nun, wo er vor ihm stand und in Ashs zweifarbigen Augen blickte, in denen ein Sturm aus Zorn und Verwirrung tobte, wusste er, dass er ohne Ash nicht lange überlebt hätte. Er hätte sich für die nächsten Jahrzehnte verstecken und bis an sein Ende ein Leben in Einsamkeit führen müssen und damit hatte er sich abgefunden, denn er hätte es für Ash getan. Damit er in Sicherheit war und ein normales Leben leben konnte. Aber die Wahrheit war, dass Kee daran kaputt gegangen wäre. Nicht weil er verbannt aus seiner eigenen Welt ein Leben in stetiger Einsamkeit hätte führen müssen, nein. Die Einsamkeit machte ihm nichts aus, Kee war schon immer ein Einzelgänger gewesen. Es war der Gedanke daran, Ash nie wieder sehen zu können, der ihn mit der Zeit innerlich zerrissen hätte. Ash war der Grund, warum er überhaupt lebte. Und bis jetzt dachte er, er würde auch der Grund sein, warum er sterben würde. Aber nicht so.
Wenn Kee also ehrlich mit sich selbst war, war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie sich wiedergesehen hätten.
„Das ist also alles?", sagte Ash plötzlich, seine Stimme klang hohl, überhaupt nicht so, wie Kee sie in Erinnerung hatte. „Das ist alles, was ich von dir bekomme? Stille?"
DU LIEST GERADE
FAEVEN - Der verlorene Junge
FantasyKeighan und Ashbel waren wie Gold und Silber, Licht und Schatten, Feuer und Wasser, Tag und Nacht. Sie waren so unterschiedlich, wie es zwei Jungen nur sein konnten. Doch sie waren dazu auch eines: unzertrennlich. Bis Kee von einem Tag auf den ander...