ASHBEL
Dafür, dass der Mann der meist gefürchtete meilenweit war, war es nicht schwer gewesen, in sein Haus zu gelangen. Ash hätte mit allem gerechnet. Mit Messern, die auf sie niederregneten, sobald sie über die Türschwelle traten; Leibwächter, die ihnen die Kehle durch schlitzten; Hunde, die ihre Körper zerfetzten; selbst irgendein abstraktes Rätsel, ohne dessen Lösung sie den Mann nicht treffen dürften, hätte seinen Reiz gehabt. Aber es erwartete sie nichts von alldem. Ash brauchte nur an die massive Holztür des Eingangs klopfen und den Namen des Mannes sagen, als sich auf Augenhöhe ein schmaler Schlitz auftat.„Hook Nightshade." Ash bezweifelte, dass das sein richtiger Name war, aber was kümmerte ihn das schon.Der schmale Schlitz wurde wieder zugeschoben und eine Sekunde später hörte er das Klacken von Schlüsseln in Schlössern, die herumgedreht wurden. Ash warf einen kurzen Blick auf Jean, um sicherzugehen, dass sie noch neben ihm stand. Sie hatte diese dumme Angewohnheit, sich immer in den ungünstigsten Momenten unbemerkt davonzuschleichen. Doch sie stand noch neben ihm, ihr Blick stur auf die Tür gerichtet. Ash öffnete den Mund, um ihr irgendetwas aufmunterndes zu sagen, doch die Tür öffnete sich schon.Entgegen allen Erwartungen war es jedoch kein Mann, der in der Tür stand, sondern eine junge Frau. Wahrscheinlich war sie kaum älter als Ash selbst; lange, braune Haare umrahmten ihr liebliches Gesicht, dunkle braune Augen starrten ihm hart entgegen.„Wer seid ihr und was wollt ihr?", fragte sie unfreundlich. Ihre Stimme passte nicht zu ihren harschen Worten. Ihre Stimme war weich und sanft, Ash würde es nicht wundern, wenn sie gut singen könnte.Ash räusperte sich. „Ashbel Faeven. Und das ist-"„Jean Blanchet", unterbrach Jean ihn ungefragt. Ash biss frustriert die Zähne zusammen. Sie hatten gerade eben noch darüber geredet, dass sie den Mund halten und ihm das Reden überlassen sollte.Das Mädchen hinter der Tür warf einen kurzen Blick über Jeans Erscheinung, dann hob sie missbilligend ihre Nase. Ash entschied an dieser Stelle, dass er sie trotz ihrer nicht zu leugnenden Schönheit nicht ausstehen konnte.„Ich will mit Hook Nightshade sprechen. Ich brauche Informationen."„Oh, Informationen", wiederholte das Mädchen gelangweilt und begutachtete ihre Fingernägel. „Brauchen wir die nicht alle?"„Ich habe Gold dabei."Plötzlich schien er wieder ihre Aufmerksamkeit zu haben. Ihre schmalen Augen wanderten zu dem Beutel um Ashs Schulter, als würde sie durch den Stoff hindurch das Gold schimmern sehen können. „Gold... Gold ist knapp heutzutage."„Ich weiß."Das Mädchen schenkte Ash einen langen Blick, und er sah ihr an, dass sie gerade innerlich abwägte. Dann verdrehte sie schließlich ihre Augen. „Kommt rein. Ich werde mit meinem Vater reden und schauen, was ich tun kann. Normalerweise lässt er sich nicht auf Kinder ein."Ash wollte ihr sagen, dass er ganz bestimmt kein Kind mehr war und dass Jean sich mit ihren zehn Jahren wahrscheinlich erwachsener benehmen konnte als sie, aber er hielt den Mund. Er durfte das hier nicht vermasseln.Sie betraten ein kleines Foyer, wo Ash und Jean warten sollten, während das Mädchen hinter einer der vielen Türen verschwand. Das Foyer war zwar klein, aber schon allein der gepolsterte Stuhl, auf dem er saß, war wahrscheinlich teurer, als alles zusammen, was sie gerade besaßen. Ash beobachtete Jean von seinem Platz aus, die neugierig durch den Raum lief und fasziniert die Gemälde an der Wand betrachtete. Nachdem sie alle Bilder durchhatte, blieb sie vor einem riesigen Spiegel mit einem kunstvollen bronzenen Rahmen stehen. Jean betrachtete sich im Spiegel und Ashs Herz zog sich zusammen, als ihr Lächeln langsam von ihren Lippen verschwand. Er hatte keine Ahnung, wann sie das letzte Mal ihr Spiegelbild gesehen hatte. Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann er sein Eigenes zuletzt gesehen hatte.„Ash?", fragte Jean seltsam heiser.„Was ist?" Ash brauchte sein Gesicht nicht zu sehen, um zu wissen, wie besorgt er dreinschauen musste. Irgendetwas beschäftigte sie.„Findest du... Bin ich schön?" Jean betrachtete noch immer ihr Spiegelbild.Ash traf die Frage völlig unvorbereitet. Wie sollte er das beurteilen können? Jean war... Jean. Seine kleine Jean. Konnte man zehnjährige Kinder überhaupt schon als schön bezeichnen? Dann wurde ihm schlagartig bewusst, dass Kee und er selbst nicht älter waren, als er bemerkt hatte, wie schön Kee eigentlich war. Aber Kee war Kee. Kee hatte etwas an sich, das Menschen dazu verleitete, gleich zweimal hinzuschauen. Er besaß eine unbeschreibliche, fast unmenschliche Schönheit.„Wie kommst du darauf?", entschloss sich Ash erst zu fragen.Jean blickte unsicher in ihre eigenen Augen. Ash hatte sie noch nie so erlebt und er wusste nicht, was er tun sollte.„Dieses Mädchen... Sie hat so lange Haare und trägt ein Kleid und lange Fingernägel und sie ist sauber. Und ich..." Jean nahm ihre Schiffermütze ab und zupfte sich an einer ihrer kurzen Locken. „Und ich hab kurze Haare, wie ein Junge. Und ich hab kein Kleid an. Und keine langen Fingernägel." Sie schaute kurz auf ihre abgekauten Fingernägel. „Und an meiner Wange ist noch Asche." Sie wischte sich kurzerhand mit dem Saum ihres Pullovers übers Gesicht. Dabei verwischte sie die Asche an ihrer Wange aber noch mehr. Jean schluckte und zog sich ihre Schiffermütze so tief ins Gesicht, dass sie nicht mehr in den Spiegel schauen konnte. Sie trottete zu Ash herüber und ließ sich auf den Stuhl neben ihn fallen.Ash schüttelte den Kopf und hob ihre Mütze an, damit er ihr ins Gesicht schauen konnte.„Jean, hör mir zu. Du hast recht, du bist nicht wie dieses Mädchen. Du hast keine langen Haare, aber weißt du was? Andere Mädchen würden für deine Locken töten. Du hast auch keine langen Fingernägel, aber was würden deine ganzen kleinen Freunde davon halten? Und Kleider. Erinnerst du dich noch daran, warum du damals dein Kleid nicht mehr tragen wolltest?"„Zu unbequem. Und kalt", nuschelte Jean, ohne ihn anzuschauen. Ash musste kurz lächeln.„Und jetzt denk an all die Mädchen, die jeden Tag damit herumlaufen müssen. Jean, du bist nicht wie die anderen Mädchen. Du bist du. Wieso so sein wollen, wie die anderen, wenn du als du schon perfekt bist? Du bist so intelligent wie kein anderer. Ich hab noch nie jemanden getroffen, der ein Schloss schneller knacken kann als du. Und du bist die beste Taschendiebin weit und breit. Und dazu bist du noch wunderschön. Merk dir das."Jeans Ohren liefen rot an. Sie versteckte ihr Gesicht vor Ash und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. „Okay", nuschelte sie unverständlich.Ash verdrehte die Augen und wuschelte ihr kurz über den Kopf, ihre Mütze fiel dabei herunter. Jean beschwerte sich und fing an zu fluchen (sie konnte fluchen wie ein Seefahrer), doch Ash hörte ihr nicht zu, denn plötzlich öffnete sich die Tür, hinter der das Mädchen noch vor ein paar Minuten verschwunden war.Das Mädchen hob bei Jeans Anblick, die gerade ihre Mütze vom Boden aufhob, eine Augenbraue, dann schaute sie zu Ash.„Mein Vater hat sich dazu bereit erklärt, euch anzuhören. Ihr habt zehn Minuten."Sie verschwand ohne ein weiteres Wort die Treppe des Foyers hinauf in den ersten Stock. Anscheinend war es ihr nicht erlaubt, bei den Gesprächen zwischen ihrem Vater und seinen Kunden dabei zu sein. Oder sie hatte keine Interesse.
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FAEVEN - Der verlorene Junge
FantasyKeighan und Ashbel waren wie Gold und Silber, Licht und Schatten, Feuer und Wasser, Tag und Nacht. Sie waren so unterschiedlich, wie es zwei Jungen nur sein konnten. Doch sie waren dazu auch eines: unzertrennlich. Bis Kee von einem Tag auf den ander...