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ASHBEL

Sie hätte schon längst wieder zurück sein sollen. Ash lief ungeduldig unter der alten Eiche auf und ab, hielt ab und zu inne, um nach Schritten zu lauschen. Sie brauchte sonst nie so lange, was, wenn sie in Schwierigkeiten steckte? Bei dem Gedanken musste Ash innerlich lachen. Jean steckte immer in Schwierigkeiten.
Ash hielt inne und schaute die Straße hinab. Die Sonne war inzwischen fast untergegangen, demnach hätte Jean vor einer Stunde an ihrem Treffpunkt unter der alten Eiche sein sollen. Es war nichts Neues, das sie sich verspätete, aber eine Stunde war selbst für sie etwas ungewöhnlich. Gerade als er das dachte, hörte er das Rascheln von toten Blättern unter leichten Schritten. Er drehte sich um und ein paar Sekunden später erspähte er die dunkelblaue Schiffermütze zwischen dichtem Geäst. Jean betrat mit einem breiten Zahnlückenlächeln die Lichtung, in der Hand hielt sie ihren braunen Lederbeutel.
Bevor sie etwas sagen konnte, kam ihr Ash zuvor. „Was um alles in der Welt hat so lange gedauert?"
Anstatt ihm zu antworten, wurde das freche Lächeln auf ihren Lippen breiter. „Hast du dir etwa Sorgen gemacht?"
Ash ignorierte ihren Ton und riss ihr den Beutel grob aus der Hand. „Zeig her."
„Nein, warte-" Jean machte Anstalten, ihm den Beutel wieder aus der Hand zu reißen, doch es war schon zu spät. Ash hatte bereits einen Blick in die Tasche geworfen.
„Was ist das?", fragte er monoton, obwohl er sich die Frage bei dem Anblick des dunkelgrauen Fellbüschels schon selbst beantworten konnte. Dieses Mädchen machte ihn verrückt.
„Nur ein kleiner-", versuchte sie vergeblich ihr kleines Mitbringsel zu verharmlosen.
„Mader. Du hast einen verdammten Mader mitgebracht." Ash schaute sie einfach nur an. Er konnte sehen, wie sie sich innerlich unter seinem harten Blick wand. Bis sie es nicht mehr auszuhalten schien und verteidigend die Arme hob.
„Ich konnte ihn nicht einfach dalassen, du hättest den Vorratsraum sehen sollen, der war fast leer! Er wäre sicher darin verhungert."
Ash antwortete nicht. Es war nichts Neues, dass Jean einfach so irgendwelche kleinen Nager mitbrachte, einmal hatte sie sogar eine Ratte eingefangen und versucht, sie zu ihrem Haustier zu machen. Am Ende ist sie entkommen und hat ganz nebenbei noch ihren gesamten Essensvorrat aufgefressen. Sie hatten danach ganze zwei Tage nichts mehr zu essen gehabt. Seitdem machte Ash keine Ausnahmen mehr. Er griff in den Beutel, packte den Mader am Nackenfell und ließ ihn auf dem Boden wieder ab. Der Kleine schnupperte kurz am Boden, die Schnurrhaare zitterten aufgeregt, die kleinen schwarzen Augen huschten flink hin und her. In der nächsten Sekunde war er durch das Dickicht verschwunden.
Jean starrte ihn mit ihren großen blauen Augen an. „Ich hatte ihr schon einen Namen gegeben!"
„Das war ein ‚er'", erwiderte Ash trocken. Jean schloss beleidigt ihren Mund und starrte auf den Beutel. „Du solltest keine verdammten Mader fangen, du solltest Essen besorgen. Was um alles in der Welt sollen wir mit einem Mader anfangen? Willst du den vielleicht zum Frühstück essen?", fuhr Ash unbeirrt fort. Wann würde dieses Mädchen endlich verstehen, dass das Ganze kein Spiel war, sondern dass es um ihr Überleben ging? „Gut, ich nämlich auch nicht. Hast du sonst noch was bekommen?", fragte Ash eine Spur sanfter, nachdem er bemerkte, dass Jean immer noch schmollte. Das waren die Momente, in denen er daran erinnert wurde, dass sie erst zehn Jahre alt war. Sie war immer noch ein kleines Mädchen. Andere kleine Mädchen spielten mit Puppen oder mit Kuscheltieren, Jean mit kleinen Nagetieren.
„Brot. Und Käse", antwortete Jean und reckte ihr Kinn, als müsste sie ihm irgendetwas beweisen. Ash schaute in die Tasche und fand tatsächlich ein halbes Laib Brot und etwa ein achtel Stück von etwas vor, das nach Schafskäse aussah. Wenn sie sich die Portionen gut einteilten, könnten sie damit etwa drei bis vier Tage hinkommen.
„Gut", nickte Ash und knüllte den Beutel zusammen. Er hing ihn sich um die Schulter und zusammen machten sie sich auf den Weg in die entgegengesetzte Richtung, wo sie vor ein paar Stunden noch eine leerstehende Hütte entdeckt hatten.

„Ash?", fragte Jean mit vollem Mund. Sie saß im Schneidersitz auf dem Boden vor dem Kamin, in den Ash vor einer Weile etwas Feuerholz hineingeschmissen hatte, damit es in der Hütte wärmer wurde. Als sie die Holzhütte betreten hatten, war Ash sofort klar gewesen, dass sie schon länger nicht mehr bewohnt wurde. Der Staub auf den alten, verwanzten Möbeln war mindestens zwei Zentimeter dick und hier und da hörte man das Rascheln und Fiepen von Mäusen, die sich hier zu Jeans Vergnügen eingenistet hatten. Ash summte fragend und Jean redete weiter.„Werden wir auch irgendwann mal in einem Haus wohnen? Ich meine so richtig, mit Garten und eigenem Ofen und Betten."
Ash schaute sie von der Seite an, Ihr sonst so sorgloses Gesicht lag in nachdenklichen Falten. Inzwischen hatte sie ihre Schiffermütze abgelegt und ihre kurzen, blonden Locken reflektierten das Feuer. „Irgendwann bestimmt", antwortete er. „Wenn wir ihn gefunden haben, wird alles besser. Dann müssen wir unser Essen nicht mehr von anderen Leuten stehlen und in leeren Häusern ohne Kamin schlafen."
Jean blieb eine ganze Zeit lang still und starrte ins Feuer. Ash konnte ihr ansehen, dass sie etwas bedrückte, kannte sie aber gut genug, um zu wissen, dass sie schon von alleine mit der Sprache rausrücken würde. Die letzten zwei Jahre waren nicht einfach gewesen, für beide nicht. Ash hatte sich bisher nie auf jemand anderen eingelassen als auf Keighan und dazu war Jean noch ein Mädchen. Zugegeben, mit ihrer Schiffermütze, die ihre mittlerweile kurzen blonden Locken versteckten, ihrem dreckigen Gesicht und der alten Latzhose, die sie immer trug, sah sie nicht unbedingt wie ein Mädchen aus, aber Ash musste schnell lernen, dass er mit ihr nicht so umgehen konnte, wie er es mit Keighan immer getan hatte. Jean war um einiges sensibler und anhänglicher, Ash war mittlerweile so etwas wie ihr großer Bruder, zu dem sie aufschaute. Ash hatte nie Geschwister, aber Jean war für ihn in den letzten beiden Jahren definitiv zu einer kleinen Schwester geworden und egal, wie sehr sie ihn manchmal nervte und egal, wie wenig sie auf das hörte, was er ihr befahl; sie war ihm in der Zeit wirklich ans Herz gewachsen und er würde alles dafür tun, damit es ihr gut ging. Dieses kleine Mädchen war alles, was er noch hatte. Er würde es nie zugeben, aber er hatte es in den ganzen Monaten nicht einmal bereut, sie damals aus dem Waisenhaus mitgenommen zu haben. Er wüsste nicht, was er ohne ihre Gesellschaft machen würde.
„Ash?", fragte Jean plötzlich wieder. Diesmal schaute sie ihn mit ihren blauen Augen direkt an.
„Was?", erwiderte er.
Sie zögerte kurz. „Hast du nie daran gedacht, einfach aufzugeben?" Jean musste sich nicht erklären, damit Ash wusste, was sie meinte.„Nein. Nie", antwortete er, ohne zu zögern.„Aber was ist, wenn er nicht gefunden werden will? Vielleicht... vielleicht lebt er ja gar nicht mehr?"
Ash runzelte leicht genervt die Stirn. Jean schien ihren Fehler zu bemerken und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Das tat sie immer, wenn sie sich schuldig fühlte.
„Tut mir leid", sagte sie leise und kuschelte sich, ohne zu fragen, an ihn heran. Sie legte ihren Kopf in seinem Schoß ab und starrte ins Feuer. „Ich frag mich manchmal nur, wozu wir das Ganze machen. Ich meine, es macht Spaß, ich kann machen was ich will-" Sie brach lachend ab, als Ash ihr in die Seite kniff. „Fast alles", korrigierte sie sich schnell, „Aber willst du für immer so weitermachen?"
Bei der Frage blieb Ash einen Moment lang ruhig. Es war eine Frage, die er sich in letzter Zeit immer häufiger stellte. Was er vorher gesagt hatte, stimmte: Er hatte nie daran gedacht, einfach aufzugeben. Aber langsam begann er sich zu fragen, wohin ihn seine Suche führen würde. Er konnte nicht ewig so weitermachen, das wusste er. Jean hatte ein besseres Leben verdient, nicht eines, in dem sie sich ihr Essen stehlen musste. Er wollte eine bessere Zukunft, wenn nicht für sich selbst, dann wenigstens für sie.
Ash ließ sie jedoch nicht an seinen Gedanken teilhaben. Alles, was er schließlich antwortete, war, „Ich habe ihm damals versprochen, dass ich ihn niemals hängen lassen würde. Und das werde ich nicht. Ich werde ihn finden. Früher oder später werde ich ihn finden." Wen von ihnen beiden er damit überzeugen wollte, wusste er nicht.
Jean gähnte laut. „Hast du das Gold noch?"
Ash fasste sich unterbewusst an die Innentasche seiner Jacke. Drei runde Goldstücke zeichneten sich unter dem Stoff ab. Das war ihr Plan für morgen; das Gold gegen Informationen einzutauschen.
„Natürlich", antwortete er schließlich.
Jean drehte ihren Kopf und schaute ihn von unten herauf an. „Was ist, wenn er uns nicht weiterhelfen will?"
Ash blieb still. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie morgen bei ihrem Informanten aufkreuzten und er ihnen nichts verraten würde, war hoch. Ash kannte ihn nicht persönlich. Nur durch Gerüchte und Geschichten, die man sich in der Umgebung über diesen Mann erzählte, und die waren vielversprechend. Es hieß, er wäre einer der mächtigsten Männer weit und breit. Er wüsste alles über jeden und dealte für gewisse Gegenleistungen mit seinen Informationen. Er war so gefährlich, dass selbst die kleinste Information über einen Menschen eben diesem Menschen das Leben kosten könnte. Ash hatte lange überlegt, ob er sich wirklich auf dieses Geschäft einlassen sollte. Umso weniger dieser Mann über ihn wusste, desto besser. Aber Wissen war Macht und Ash brauchte nun einmal das Wissen. Er konnte sich nicht sicher sein, ob der Mann etwas über Keighan wusste, aber ein Versuch war es wert.
„Er wird uns weiterhelfen", versicherte Ash dem kleinen Mädchen in seinem Schoß. Sie bewegte sich nicht und Ash dachte schon, sie wäre eingeschlafen und schaute hinunter, doch sie starrte ihn bloß mit ihren klaren, blauen Augen an.
„Okay", war alles, was sie nach einer Weile sagte. Sie gähnte wieder und Ash strich ihr über den Kopf.
„Gute Nacht, Magpie."
„Gute Nacht, Ash", nuschelte sie mit geschlossenen Augen.
Doch Ash dachte wie so oft nicht daran, zu schlafen. Stattdessen starrte er ins flackernde Feuer, lauschte den regelmäßigen Atemzügen des Mädchens in seinem Schoß und war mit seinen Gedanken weit, weit weg an einem Ort, wo er wieder mit dem einzigen Menschen vereint war, der ihm neben Jean überhaupt etwas bedeutete.

FAEVEN - Der verlorene JungeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt