Kapitel 1 - Beautiful Trauma

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„Sie sieht immer noch geschwollen aus!", gab ich meckernd von mir und betrachtete meine Nase im hell beleuchteten Spiegel von Chloes Bad. „Das geht noch weg, keine Sorge", rief Chloe mir aus dem Flur entgegen. Kurz darauf erschien ein buschiger Lockenkopf im Türrahmen, grinsend musterte sie mich. „Was?", fragte ich entgeistert und sah an mir hinab. Chloe leckte sich über die Lippen und kam auf mich zu: „Ich mag dich so zu sehen." Sie deutete mit dem Finger auf meinen nackten Körper, an dem noch Wassertropfen hinunter perlten und küsste mich stürmisch. „Vorsicht meine Nase", nuschelte ich zwischen unseren leidenschaftlichen Küssen hindurch. Langsam ließ sie von mir ab, fuhr mit ihren Händen an meinen Hüften hinunter und lehnte sich kurz darauf wieder an den Türrahmen. „Hm, entschuldige. Konnte einfach nicht widerstehen", sagte sie und blickte zu Boden. Ich griff nach dem Kragen ihrer Bluse und zog sie an mich: „Entschuldige dich niemals fürs Küssen!" Kichernd legte ich meine Lippen auf die ihre und presste danach meine Stirn an ihre: „Danke fürs da sein..." Sie sah mir tief in die Augen, atmete hörbar aus und murmelte: „Und du bedank dich nicht fürs da sein, ich liebe dich Lilly." Nun grinsten wir uns wie Honigkuchenpferde an und verharrten in der Stille des Moments. Kurz darauf löste sie sich von mir und deutete mit dem Finger auf meine Klamotten: „Du solltest dich fertigmachen, wir sind spät dran!" Mein Blick fiel auf die Uhr was mich dazu antrieb in Windeseile in die Jeans zu schlüpfen und die Bluse zuzuknöpfen. Ich rubbelte meine Haare im Handtuch trocken, band sie zum Zopf, legte etwas Schminke auf und eilte in die Küche, wo schon ein dampfender Kaffee auf mich wartete, sowie ein leckeres Frühstück. „Aber dazu habe ich noch Zeit?", fragte ich auf dem Brötchen kauend während ich mit der anderen Hand nach dem Kaffee griff. Chloe nickte und bedeutete mir mich zu setzen: „Dafür ist immer Zeit, wir brauchen von hier nur zehn Minuten, schätze ich." Ich schoss einen bösen Blick in ihre Richtung und schnalzte mit der Zunge: „Und warum hast du mich im Bad dann so angetrieben? Hast du nicht gesagt wir müssen um 12 Uhr dort sein?" Chloe grinste schelmisch und nahm einen großen Schluck von ihrem Kaffee: „Vielleicht wollte ich einfach nur pünktlich da sein und habe dir eine falsche Uhrzeit gesagt?" Unschuldig klimperte sie mit ihren Wimpern und wich meiner Hand aus, die spielerisch nach ihrem Oberschenkel schlug. Sie sprang von ihrem Platz auf, hauchte einen Kuss auf mein Haar und verschwand im Flur: „Bedeutet aber nicht, dass du jetzt alle Zeit der Welt hast. In fünf Minuten fahren wir los!" Ich biss ein weiteres Mal vom Brötchen ab, schlang meine Tasche über die Schulter und folgte ihr in den Flur. Sie stand dort auf ihr Handy starrend und tippte aufgeregt einen Text in der Länge eines Romans in ihr Handy. Ich näherte mich von hinten und schlang meine Arme um ihre Taille, sie ließ das Handy sinken und verstaute es schnell in ihrer Handtasche. „Geheimnisse?", fragte ich spielerisch pikiert und sie schüttelte den Kopf. „Erzähle ich dir später", gab sie murrend von sich und reichte mir meine Jacke. Stirnrunzelnd nahm ich sie entgegen, zog sie an und schlüpfte in meine Schuhe. Auch während wir die Treppen hinabstiegen dachte ich über ihre Worte nach, es ließ mich einfach nicht los. Eigentlich war das Wort Geheimnis als Scherz gemeint gewesen, aber nach ihrem strengen Blick zu urteilen, hat Chloe das definitiv anders aufgefasst. Gemeinsam stiegen wir in ihren Mini und fuhren los, sie drehte das Radio lauter und die Stimmung drohte zu kippen.

Mit zittrigen Beinen marschierte ich den Weg zum Café in der Altstadt in einem Affentempo, bei jedem Schritt durschoss mich ein schmerzhafter Stich. Angst erfüllte meinen Körper, ließ meinen Magen krampfen und meine Hände kribbeln. Kleine Schweißperlen formten sich auf meiner Stirn und kullerten einige Sekunden später an meinem Gesicht hinab. Entnervt fuhr ich mit meiner Hand darüber um den Schweiß wegzuwischen, ich atmete ein letztes Mal tief ein und aus, dann trat ich durch die dunkle, hölzerne Tür des „Black Hole". Schummriges Licht empfing mich im Inneren des Ladens, meine Augen brauchten einen Moment um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dieser Laden machte seinem Namen auf jeden Fall alle Ehre. Die Theke im hinteren Bereich war so schwarz, dass sie das Ladenlokal fast schon zu verschlucken drohte, lediglich kleine LEDs auf den Frontseiten des schwarzen Holzes erleuchteten diesen Bereich. Von weitem sah es tatsächlich wie ein Sternenhimmel aus, fasziniert sah ich mich weiter um. Hinter der Theke standen an den Wänden fein säuberlich aufgereiht alle Sorten von Alkohol die man sich erdenken konnte, rechts davon war eine üppige Kaffeemaschine in die Wand eingelassen. Mehrere Menschen wuselten hinter der Theke umher, eine rotblonde Frau stellte eine dampfende Tasse Kaffee auf ein Tablett, während der braungebrannte Typ neben ihr eine Wasserflasche aufdrehte und mehrere Gläser damit befüllte. Die Hocker vor der Theke waren alle leer, dafür waren die Tische des Cafés komplett besetzt. Meine Augen wanderten über die Tische und Menschen die an ihnen saßen, am hinteren Ende, in einer wirklich dunklen Ecke entdeckte ich ihn. Er fuhr sich durch sein dunkles, braunes Haar und hatte tiefe Ringe unter den Augen. Seine blasse Haut stach in dieser dunklen Umgebung besonders hervor, ließ ihn fast schon unmenschlich wirken. Der Knoten in meinem Hals wiegte schwer und meine Beine bewegten sich keinen Zentimeter von dem Ort wo ich stand. „Es ist nur noch was an der Theke frei", sagte plötzlich eine tiefe Stimme hinter mir. Ruckartig drehte ich mich um und sah in das Gesicht eines älteren Mannes, der schon schütteres, graues Haar hatte. „Ich...", fing ich an zu stammeln und suchte händeringend nach den richtigen Worten. In den letzten Wochen mangelte es mir an sozialen Kontakten, es fiel mir schwer normal auf Gespräche zu reagieren. „Lilly, hier!", rief mein Vater aus der hinteren Ecke und winkte mich heran. Fast schon dankbar eilte ich in seine Richtung, auch wenn es mir eigentlich Unbehagen bereitete. „John", sagte ich als ich mich an den Tisch setzte. Mein Vater senkte seinen Blick, Trauer huschte über sein Gesicht und er räusperte sich lautstark. Dieses eine Mal sagte er nichts dazu, die Diskussion über seinen Namen fachte er kein weiteres Mal an. Er orderte zwei Latte Macchiato, Wasser und Kuchen und sah mich nicht dabei an. Mein Herz pochte schmerzhaft, aber ich gab mir nicht die Blöße es meinem Vater zu zeigen, ihm zu sagen wie sehr mir das alles weh tat. „Deine Nase sieht besser aus", murmelte er und versuchte so ein Gespräch in die Wege zu leiten. „Hm", ich fummelte an dem Reißverschluss meiner Jacke und pellte mich heraus, „geht langsam wieder. Aber Dr. Pelham meinte es dauert noch einige Zeit bis die Schwellung ganz weg ist." Mein Vater hob sein Gesicht und blickte mir in die Augen, er freute sich darüber, dass ich endlich mehr als nur ein Wort zu ihm sagte, ich wusste es. „Und wie sieht es mit dem kleinen Riss in deiner Magenwand aus?", seine Augen sahen wieder fort von mir und gaben mir Freiraum um meinen Vater zu mustern. Ich ließ mir Zeit für meine Antwort und studierte die tiefen Falten in dem so vertrauten Gesicht meines Vaters. Seine Haut war nicht nur blass, sondern auch fahl, sie schimmerte gräulich. Die Schatten unter seinen Augen waren eine Kombination aus schwarz und blau, seine Augen quollen dadurch besonders hervor. Seinen Bart schien er schon länger nicht mehr gestutzt zu haben, überall sprossen längere Haare hervor, auch an Stellen wo er sie sonst niemals zugelassen hätte. Mein Vater hat immer besonderen Wert auf einen gepflegten Bart gelegt, sein Aussehen gehörte mit zu seinem Kapital. Während seines Studiums verdiente er sich Geld mit Modelaufträgen, sowohl auf dem Laufsteg als auch in verschiedenen Werbekampagnen. Ihn jetzt so zu sehen dämpfte meine Laune, meine sonst so ausgeprägte Angriffslust. Ich wusste mein Vater litt, aber es war kein Vergleich zu dem was ich die letzten Monate ach was Jahre, gefühlt und erlebt habe. „Du solltest mal wieder schlafen", sagte ich bevor ich fortfuhr, „Ich musste mich lange schonen, habe heute aber noch einen Kontrolltermin. Dann darf ich vielleicht auch bald wieder zur Schule!" Der Anflug eines Lächelns formte sich auf einem Gesicht, dann nahm er einen Schluck von seinem Kaffee und nickte erfreut: „Das freut mich sehr zu hören, also kümmert Jonas sich gut um dich?" Der Kloß in meinem Hals kam zurück und es fiel mir schwer meinen Schluck Kaffee hinunterzuschlucken, ohne mich zu verschlucken. Wie erwartet landete der Kaffee in der falschen Röhre und ich hustete wie auf Kommando los. Mein Vater sprang hastig auf und klopfte mir vorsichtig auf den Rücken, prustend befreite ich mich aus dieser Lage und beruhigte mich allmählich wieder. Das Stirnrunzeln meines Vaters entging mir nicht während er sich setzte, allerdings sprach er seine Sorgen oder Bedenken nicht aus. Wenn ich meinen Alltag mit Chloe verbrachte vergaß ich ab und an meine Freunde, ich ignorierte sogar den Fakt, dass Jonas für mich log. Er behauptete ich wohnte bei ihm, ohne zu wissen wo ich eigentlich abhing. Immer wenn ich mich bedankte tat er so als sei es selbstverständlich, als Widergutmachung für das was er mir angetan hatte. „Er ist ein Gentleman und kümmert sich gut", brachte ich mühsam hervor und wich den Blicken meines Vaters aus. Wenn er mich noch länger so ansehen würde, flog meine Lüge auf. „Aber du weißt, dass du jederzeit zurück nach Hause kommen kannst, oder?", nuschelte mein Vater in seinen dicken Bart und ergriff dabei meine Hand. Die Haut die er berührte stand unter Feuer, unangenehm rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her und zog meine Hand aus seiner: „Nach Hause?" Die zwei Worte trieften vor Ironie und Schmerz, so sehr dass mein Vater schuldbewusst zusammenzuckte. „Lilly...bitte", sagte er leise und versuchte wieder nach meiner Hand zu  greifen, doch ich zog sie rechtzeitig weg und verknotete sie in meinem Schoß. „Ich habe kein zu Hause mehr, Dad! Ich habe seit Jahren kein zu Hause mehr!", Tränen traten in meine Augen, obwohl ich mir fest vorgenommen hatte dieses Treffen ohne Tränenausbruch hinter mich zu bringen. Wütend darüber, dass er es wieder einmal geschafft hatte stand ich auf und eilte zu den Toiletten. Ich schloss mich in der letzten Kabine ein und presste mich gegen die weiße Fliesenwand um mich zu beruhigen. Meine Atmung ging stoßweise und es schnürte mir regelrecht den Hals zu daran zu denken, was mein Vater als mein zu Hause ansah. Das Einzige zu Hause was ich besaß war Chloe. Chloe war mein Schutz, mein Heim. Man sagt immer ein zu Hause müsste ein Ort sein, ein Haus oder eine Wohnung wo man seine Familie vorfindet, doch für mich ist zu Hause sein eine Person. Und diese Person war Chloe.

Midnight Rain - Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt