Kapitel 6 - Fall apart

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Unentschlossen darüber wohin ich gehen sollte landete ich im Endeffekt im Supermarkt, zum Glück war meine Chefin nicht zu sehen. Der Markt schützte mich vor dem Platzregen der mich eben eiskalt erwischt hatte und sich klammheimlich mit meinen Tränen vermischt hatte. Was suchte Chloe bei Dr. Pelham? Ich verspürte die stetig wachsende Angst Chloe ständig unrecht zu tun, aber jedes Mal kochte Wut in mir hoch und nahm mir den Verstand normal zu denken. Ich fühlte mich zurückversetzt in die Situationen wo ich geglaubt hatte, sie würde mit Tara oder Dr. Pelham schreiben. Und nun musste ich sie bei Dr. Pelham entdecken. Ausgerechnet heute wo sie so abweisend zu mir war. Es fachte mein Misstrauen nur an. Meine Gedanken überschlugen sich von Sekunde zu Sekunde und ich spürte wie mein Körper langsam aufgab, meine Beine zitterten unkontrolliert und gaben mir nicht mehr den nötigen Halt. Plötzlich fühlte ich sie unter mir nachgeben und griff nach dem Pfeiler links von mir, jedoch traf ich auf kräftige Arme die mich festhielten und daran hinderten zusammenzusacken. „Lilly, alles okay?", die besorgte Stimme kam mir bekannt vor. Ich versuchte mich zu beruhigen und meine Sinne zu schärfen, ich rieb mir die Augen um die verschwommene Sicht zu klären. „Finn?", fragte ich ungläubig als die roten Haare vor mir deutlich in Erscheinung traten. Er nickte stumm und wirkte unheimlich besorgt, nicht so desinteressiert wie die letzten Tage. „Wie geht es dir?", schob er hinterher und ich wusste er spielte nicht auf meine Gesundheit an, die Betonung machte deutlich worum es ihm bei der Frage ging. Warum kümmerte es ihn plötzlich wie es mir ging? Auf niemanden im meinem Leben war noch verlass, etwas was mich unheimlich wurmte. „Was interessiert es dich auf einmal?", giftete ich ihn an und bereute es als ich bemerkte wie verletzt er schien. Er tippelte von seinen linken auf den rechten Fuß und sah zu Boden: „Ich..." Bevor er weiterreden konnte kam ein Kunde auf ihn zu und fragte nach einer bestimmten Konserve, mein Einsatz um abzuhauen. Ich ging wacklig zwei Gänge weiter, Finn schien noch nicht bemerkt zu haben dass ich mich entfernte, und machte mich auf den Weg nach draußen. Kurz vor den Kassen riss mich eine Hand herum und ich blickte einem wütenden und doch besorgten Finn entgegen: „Hau nicht einfach ab, bitte Lilly. Es tut mir ja leid, aber...es ist so viel passiert..." „Ich weiß!", schrie ich ihn an und die Leute drehten sich zu uns um. Ich lief rot wie eine Tomate an und verfluchte es mich nicht unter Kontrolle zu haben, aber was fiel ihm eigentlich ein so etwas zu sagen. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig, er wirkte fassungslos: „Es geht immer nur um dich, ist dir das eigentlich schon aufgefallen, Lilly? Du beziehst alles sofort auf dich, glaubst alles dreht sich nur um dich und dein Wohlbefinden. Ich weiß du hast es nicht leicht gehabt in der Vergangenheit und ich bin immer für dich da gewesen, aber hast du eine Sekunde daran gedacht, dass auch ich Probleme habe. Nein? Das wundert mich nicht. Es wundert mich nicht, dass du um dich herum nichts mehr wahrnimmst! Nicht nur du hast Probleme!" Finn machte auf dem Absatz kehrt und stampfte von mir davon, ich nahm seine Worte in mich auf und erkannte dass er Recht hatte. Es ging mir immer nur um mich, es hat mich überhaupt nicht interessiert ob die Anderen Probleme haben. Angefangen bei Finn, der sich vor einigen Wochen von allem und jeden zurückzog und ich es auf mich bezog, ich glaubte er hatte genug von meinem Drama. Karla die nichts mehr mit mir zu tun haben wollte, noch wusste ich nicht warum, aber was wenn ich mich einfach nicht für den Grund interessiert habe? Matilda die sauer darüber war, dass ich mich von ihr abwand. Und zu guter Letzt Chloe. Sie war mit ihrer Schülerin zusammen, trennte sich von ihrer langjährigen Freundin, wegen mir und opferte all ihre Zeit nur für mich...um mir zu helfen, um für mich dazu sein. Die Erkenntnis hämmerte schmerzhaft in meinem Kopf und zog sich durch meinen ganzen Körper, ich kniff mir in den Unterarm um wieder klarzukommen und lief Finn hinterher.

„Finn! Warte bitte!", sagte ich völlig aus der Puste als er ins Lager abbog und keine Anstalten machte stehen zu bleiben. Ich fand ihn im Pausenraum, zusammengesunken auf einem Plastikstuhl, das Gesicht in seinen Händen vergraben. „Finn", flüsterte ich und legte meine Hand auf seine Schulter. Er schüttelte meine Hand ab und blickte mit glasigen Augen hoch, so habe ich ihn noch nie gesehen. „Fass mich bitte nicht an, okay?", forderte er mich murmelnd auf. „Okay...", gab ich zurück und ahnte weshalb er das von mir verlangte. „Finn, ich...", begann ich, doch er schnitt mir das Wort ab. „Hör auf zu reden, Lilly! Ich will es nicht hören. Ich will keine Gründe hören warum es dir leid tut, oder was wieder bei dir los war! Es geht gerade einmal nicht um dich, hast du das verstanden!?", seine Stimme zitterte und ich setzte mich auf den Stuhl rechts von ihm. Ich pustete die Luft aus meinen Lungen und strich mir die Haare zurück hinters Ohr und wartete ab, Finn brauchte noch einige Zeit um weiterzureden. „Pa hat meine Mutter über Nacht verlassen, zwei Tage später ist Großmutter gestorben und du bist bei Jonas eingezogen...", zählte er monoton auf und sah mich dabei kein einziges Mal an. „Aber du hättest doch was...", rutschte es mir raus und realisierte im selben Moment er hätte nicht damit zu mir kommen können, ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen. „Nein, hätte ich nicht und das weißt du selbst ganz genau!", sagte er und schnalzte mit der Zunge, „Das größte Übel ist wohl, dass du Jonas mir vorgezogen hast. Du hast dich ihm anvertraut bei der Feier im Park, nicht mir." Ich presste die Lippen aufeinander und ließ die letzten Wochen Revue passieren, ich habe mich nicht nur für niemanden interessiert, ich habe auch niemanden mehr an mich rangelassen. Die einzige Person die nonstop für mich da war und alles für mich getan hat war Chloe und die nahm ich als viel zu selbstverständlich. Während Finn weiterredete war ich in Gedanken wieder nur bei mir selbst und zur Strafe biss ich mir auf die Wange um mich seinen Problemen anzunehmen, aber mein Kopf war zu voll von Chloe, den Vipers und Ben. Ich konnte Finn nicht einweihen, nicht jetzt wo er diesen Groll hegte, es wäre die Bestätigung schlechthin für seine Anschuldigungen. „...und wenn ich dich ansehe will ich dich einfach nur küssen!", beendete er seinen Monolog und riss mich damit voller Schrecken aus meinen Gedanken. Finn kniete plötzlich vor mir und hielt mein Gesicht in seinen Händen, das durfte jetzt wohl nicht wahr sein, oder? Ich riss die Augen auf und versuchte mein Gesicht aus seinen Händen zu drehen, Finn lachte auf und ließ mich los: „Ich wusste du kommst erst wieder zur Besinnung wenn ich so etwas sage. Du hast mir überhaupt nicht zugehört!" Er lief vor mir auf und ab und schüttelte verärgert den Kopf, das Blut in meinen Ohren rauschte wie ein Wasserfall. „Finn ich...", setzte ich an und stoppte von selbst. Finn blieb stehen und sah mich mit einem durchdringenden Blick an: „Finn was? Welche Entschuldigung tischt du mir jetzt wieder auf?" Seufzend stand ich auf und ging auf ihn zu: „Keine. Du hast Recht, ich bin ziemlich egoistisch gewesen in letzter Zeit. Es gibt Erklärungen dafür, aber ich weiß du willst gerade keine davon hören. Du sollst wissen wie wichtig du mir bist und es war unfair von mir nicht für dich da zu sein, ich wünschte ich könnte die Zeit zurückdrehen aber es geht nicht. Ich kann dich lediglich um Verzeihung bitten und ab jetzt eine bessere Freundin sein..." Finn musterte mich unentwegt und sein Gesicht wurde zum Schluss hin weicher, die Härte verschwand allmählich auch wenn sie nicht vollständig ging. Es kam keine Antwort von ihm, anstatt dessen zog er mich in seine Arme und drückte fest zu. „Ich bin gespannt, aber Lilly? Das bedeutet nicht, dass ich nicht für dich da bin, ich möchte nur ein ausgewogenes Verhältnis haben", sagte er nach einer kurzen Pause und nahm ein wenig Abstand von mir. Nickend verschränkte ich die Arme und ein Grinsen formte sich auf seinem Gesicht: „Karla also?" Ich wusste genau was er meinte, auch wenn er nichts weiter sagte, unsere alte Verbindung bestand noch immer. „Hm. Ich weiß wirklich nicht was ich davon halten soll. Warum auf einmal? Weißt du irgendwas?", fragte ich neugierig, doch Finn schüttelte den Kopf. „Nein, seit sie nicht mehr mit Simon zusammen ist habe ich nicht mehr viel mitbekommen. Nach der Nummer ist sie ein wenig unten durch bei mir", beantwortete er mir meine Frage und rieb sich den Ellbogen. „Verstehe", ich spürte mein Handy in der Tasche vibrieren, ignorierte es jedoch anfangs, „Mich hat sie ja plötzlich einfach ignoriert, ohne ersichtlichen Grund." Wieder vibrierte mein Handy und Finn sah mich fragend an: „Willst du nicht rangehen?" Ich schürzte die Lippe und verneinte, Finn kam jedoch auf mich zu und deutete mir mit einem Kopfnicken an endlich abzuheben. „Könnte wichtig sein", murmelte er und setzte sich auf die Holzbank in der Mitte des Raumes. Ich fischte mit zitternden Fingern mein Handy aus der Tasche und spürte Wut in mir hochkochen als ich Dr. Pelhams Nummer auf meinem Display erkannte. Finn sah mich erwartend an, weshalb ich rangehen musste. „Lilly, endlich! Wo bleibst du denn? Wir müssen deine Narbe untersuchen! Damit ist wirklich nicht zu spaßen!", schimpfte sie mit mir und ich schluckte schwer. „Ist was dazwischen gekommen", antwortete ich ausweichend und sprach ein wenig leiser, aber Finn würde trotzdem alles mitbekommen, in dem Raum konnte ich nicht ausweichen. „Deine Gesundheit ist ja wohl wichtiger als alles andere! Du hast versprochen direkt nach der Schule vorbeizukommen, ich...", motzte sie mich an und stoppte abrupt, ich hatte das Gefühl sie wollte eigentlich noch mehr sagen. „Ich weiß, aber...", was sollte ich jetzt bitte sagen? „Komm sofort vorbei, wir müssen dich untersuchen! Was wenn deine Narbe aufgerissen ist? Oder was weiß ich?", ihre Stimme wurde immer lauter, sodass Finn den Kopf hob und eine Augenbraue nach oben zog. Er muss es gehört haben. „Ich komme morgen vorbei", antwortete ich patzig und Finn schüttelte den Kopf. Mit seinem Mund formte er die Worte: „Ich fahre dich." Nun schüttelte ich den Kopf, doch sein Blick verriet mir keine Widerrede leisten zu dürfen. Ich blendete Dr. Pelhams Schimpftirade einfach aus und unterbrach sie nach einer Minute: „Ist ja gut, ein Freund bringt mich." Ich legte ohne eine Antwort abzuwarten auf und streckte Finn die Zunge raus. Er schlang seinen Arm um mich, strubbelte mir durch die Haare und bugsierte mich zum Ausgang. „Was ist mit Frau Höffner?", fragte ich ihn irritiert. „Die ist heute nicht da, ihr fällt gar nicht auf wenn ich kurz weg bin!", sagte er grinsend.

Eine halbe Stunde später kamen wir am Krankenhaus an und Finns Laune sank, was verband er wohl mit diesem Ort? Ich verlangte nicht von ihm mitzukommen, er fragte auch gar nicht nach, ich war nicht böse darüber, sondern bedankte und verabschiedete mich von ihm: „Danke Finn. Wollen wir morgen vielleicht etwas zusammen unternehmen? Wie früher?" Er nickte und lächelte mich schief an: „Gerne, ich schreibe dir, okay?" Ich eilte zum Eingang des Krankenhauses, halb durchnässt vom immer noch andauernden Regen und ging mit quietschenden Schuhen zum Aufzug. Er flaues Gefühl ergriff mich und ich erinnerte mich an die Szenerie von vor zwei Stunden zurück. Wie sollte ich Dr. Pelham nur unter die Augen treten? Es ging einfacher als gedacht, sie bestrafte mich mit einer Eiseskälte und führte die Untersuchungen ohne viel zu reden durch. Ab und an entwich ihr ein Seufzen oder Stöhnen, aber einen Satz brachte sie nicht heraus. Es war komisch in dieser Stille mit ihr hier zu verharren, aber vielleicht war es besser als mit ihr zu reden. Auffällig oft blickte sie zur Tür, so als ob sie jemanden erwartete, sagte jedoch nichts. Ich verstand ihr Problem mit mir nicht, ich meins mit ihr schon. Ich biss die Zähne zusammen während sie mit dem Ultraschallkopf über meinen Bauch fuhr, hoffentlich war nichts gerissen. Wieder hörte ich sie schwer atmen, dann stand sie wortlos auf und verließ das Untersuchungszimmer. Nervosität ergriff mich und ich spielte mit meinen Fingern, brauchte ich eine erneute OP? Zehn Minuten später, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, öffnete sich die Tür erneut und vor mir stand eine aufgewühlte und weinende Chloe. Die ganze angestaute Wut verpuffte augenblicklich und ich ergriff ihre Hand um sie näher zu ziehen. Schluchzend warf sie sich in meine Arme und ich spürte ihr tränennasses Gesicht an meinem Hals: „Was ist los, Chloe?" Die Sorgen fraßen mich in diesem Moment auf, was wenn sie mit mir Schluss machen will? Was wenn sie mir gleich sagt, dass sie mit Dr. Pelham zusammen ist? Es bildeten sich Knoten in meinem Magen und ein Unwohlsein schwappte wellenartig durch meinen Körper. Chloe antwortete mir nicht sondern weinte nur noch bitterlicher, beruhigend strich ich ihr durch die Haare und hauchte einen Kuss auf ihren Haarschopf. Woher wusste sie überhaupt, dass ich hier war? Fragen über Fragen waberten in meinem Kopf umher, aber gerade war nicht der Zeitpunkt um sie auszusprechen. Ich spürte dass Chloe etwas auf der Seele lag, jetzt gerade musste ich nur ihr zuhören und mich zurücknehmen. Eine Erkenntnis die ich aus dem Gespräch mit Finn gezogen habe. „Ich kann nicht mehr", wisperte sie in mein Ohr und alles in mir gefror, Panik ergriff mich. Sie macht wirklich Schluss mit mir. „W-was?", brachte ich stotternd hervor. Chloe verweilte in meinen Armen und ließ mich auch nicht los, ihre Fingernägel bohrten sich in meine Schulter: „Du musst auf dich aufpassen. Wir müssen aufpassen." Der erste Teil erschien mir logisch, der Zweite brachte mich zum Grübeln, was sollte mir das sagen? „Was meinst du mit „Wir müssen aufpassen"?", sie löste sich leicht von mir und blickte mich ernst an. „Hat das was mit deinem Verhalten im Unterricht zu tun?", fragte ich da nichts über ihre Lippen kam. Ihr Blick verschleierte sich schlagartig, Tränen formten sich in ihren ozeanblauen Augen und ich bereute es so mit ihr gesprochen zu haben, aber sie war es doch die mich so behandelt hatte. Sie wischte sich über die Wangen und Augen, verschmierte dabei ihren Kajal und sah aus wie eine Schleiereule, fast wäre mir ein Lachen entfahren, ich besann mich noch rechtzeitig. Chloe presste ihre Lippen zusammen und nickte, Traurigkeit legte sich über ihr Gesicht. „Was sollte das?", bohrte ich nach und drückte sie leicht von mir. Ich sah ihr an wie sehr sie diese Geste verletzte, aber ich brauchte jetzt Gewissheit. „Ich werde erpresst", nuschelte sie zwischen zusammengepressten Lippen hervor. Mir wurde flau und ich schloss für einen Moment die Augen, atmete tief ein und aus und sammelte mich bevor ich sprach: „Von wem? Mit was?" Chloe lehnte sich zurück und drückte ihre Fingernägel in ihren Unterarm, mit meiner Hand umschloss ich ihre und löste ihre verkrampften Finger: „Chloe?" Wieder liefen Tränen an ihren Wangen hinab und sie schniefte auf: „Ich glaube sie wissen von uns." Ohne sich weiter zu erklären blickte sie mich traurig an, mich erfasste eine kalte Welle, Gänsehaut überrollte mich und die Haare standen mir zu Berge, sie. Sie wissen von uns.

Midnight Rain - Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt