Kapitel 11 - Der Untergang

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„Packt sie euch!", rief die weibliche Stimme aus der Ferne und ich bemühte mich schneller zu laufen. Meine Beine brannten mittlerweile vom vielen rennen, aber ich würde einen Teufel tun und stehen bleiben. Ich bog um die nächste Ecke, schlitterte über den feuchten Asphalt und rutschte fast aus, taumelnd lief ich weiter und fand erst zehn Meter weiter wieder festen Halt unter den Füßen. „Los jetzt!", brüllte sie und es klingelte in meinen Ohren. Mein Herz raste und mein Hals fühlte sich trocken an, das Brennen meiner Beine breitete sich auf meinen ganzen Körper aus und erschwerte es mir mich zu konzentrieren. Meine Gedanken galten ganz allein Chloe, nur wegen ihr fand ich noch die Kraft zu fliehen und ich wollte keine wiederholte Begegnung mit den Mädels von der Toilette. Hinter mir vernahm ich die Stimme von Lena, dem Mädchen was mich in der Toilettenkabine schlagen wollte, sie stachelte die Anderen ebenfalls an schneller zu laufen. Auch Bree war dabei, ich sah sie direkt zu Anfang, sie fiel einfach auf, sie passte nicht ins Bild der Vipers. Ihre blasse Haut, die Sommersprossen, der niedliche Ausdruck auf ihrem Gesicht bildeten einen krassen Kontrast zu Lena und dem Rest der Mädels. Ich drehte mich kurz um als ich ein lautes Fluchen hörte und zu meiner Überraschung entdeckte ich Sara unter den mir nachlaufenden Mädels. Sara aus meinem Englisch-LK gehörte den Vipers an? Meine Beine wurden wackliger und ich sog panisch die Luft ein als ich merkte wie ich langsamer wurde. „Sie kann gleich nicht mehr", kreischte die Anführerin der Mädels, auf welche ich bisher keinen Blick erhaschen konnte. Wie weit mochten die Vipers wirklich verzweigt sein? Sara unter ihnen zu sehen schockierte mich, zu den anderen Mädels passte es irgendwie, aber zu Sara überhaupt nicht. Sie gehörte immer zu den fleißigen und artigen Mädchen unserer Schule, erlaubte sich kaum Fehltritte, wollte Tierärztin werden seit sie denken konnte. Ich zermarterte mir das Hirn über sie, aber es ergab überhaupt keinen Sinn, sie war einfach niemand die einer Gang angehörte. Wenn ich versuchte mich an ihren Gesichtsausdruck von eben zurückzuerinnern erkannte ich auch einen Hauch von Verzweiflung darin, sie schien nicht zu 100 Prozent hinter dieser Aktion zu stehen. Keuchend legte ich einen Zahn zu, aber mein Körper war an seinem Limit angekommen, ich wurde langsamer. „Frau Deckert wird sich bestimmt über die nächste Nachricht freuen, ihre kleine, süße Schülerin grün und blau geschlagen. Wird sie wohl daran zu Grunde gehen? Oder wird sie es wenn sie im Gefängnis landet?", Hohn triefte aus der Stimme hinter mir und die Worte ließen meine Beine zu Eis gefrieren. Sie hörten einfach auf zu laufen und ich verlor mein Gleichgewicht, mit voller Wucht knallte ich auf den harten Boden und schürfte mir an kleinen Kieselsteinen die Handinnenflächen auf. Sie bohrten sich zum Teil tief in mein Fleisch und ich stöhnte auf, Fußgetrappel kam näher und ich ahnte in der Falle zu sitzen. Ich unternahm einen letzten Versuch aufzustehen, aber mein Körper protestierte bei jeder meiner Bewegungen. „So leicht kann es sein", Lena kam kichernd neben mir zum stehen und trat mit ihrem Fuß nach meiner Schulter, sodass ich zurück auf den Boden flog. Mein Kopf landete unsanft auf den Kieselsteinen und ich sah kurz Sterne vor meinem inneren Auge aufzucken, Luft trat aus meiner Lunge und ich rang nach Luft. Lena hob wieder ihren Fuß, aber da drückte Bree ihr Bein mit der Hand hinunter: „Ich glaube das reicht, Lena!" Ich vernahm wütendes Gemurmel, dann verstummten sie allesamt. Ich richtete meinen Blick auf Sara, die es nicht schaffte mir ins Gesicht zu sehen, sie mied meinen Blick, wirkte eingeschüchtert und fehl am Platz. „Halt die Klappe, Bree. Du hast hier nichts zu sagen!", schaltete sich ein mir unbekanntes Mädchen ein und Bree verengte die Augen zu Schlitzen. Sie setzte dazu an zu antworten, aber da trat das letzte Mädchen an mich heran und ich drehte den Kopf in ihre Richtung. Als ich erkannte um wen es sich handelte, gefror mir das Blut in den Adern. Mein Körper fuhr für einige Sekunden alle Körperfunktionen hinunter und ich fühlte mich taub, verraten und machtlos. „Überrascht mich hier zu sehen, Lilly?", fragte sie mich mit hochgezogener Augenbraue und ich schluckte. Sie verschränkte die Arme unterhalb ihrer Brust und grinste verwegen, Sara blickte sie an und wirkte fast schon ein wenig unterwürfig. Deswegen also die Aktion im Englischunterricht, langsam ergab es Sinn, auch wenn ich noch nicht alle Fäden miteinander verbunden hatte. „Du hättest dir damals einfach überlegen sollen wie du auf meine Aktion beim Flaschendrehen reagierst", erklärte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Alle Mädels, außer Sara, blickten sich fragend an, keiner wusste wovon sie sprach. Lena schlug mir unvermittelt mit der Faust ins Gesicht und ich schmeckte Blut, eisiger Geschmack breitete sich in meinem Mund aus, ich spuckte auf den Boden vor mir und blickte Lena hasserfüllt an. Diese lachte lautstark, aber sie verstummte urplötzlich als die Anführerin ihre Stimmer erhob: „Wenn das hier jemand darf, dann ich! Verstanden, Lena?" Sie schubste Lena unsanft zur Seite, welcher jegliche Farbe aus dem Gesicht wich. „Hebt sie hoch", wies sie den Rest an, Lena blieb einige Schritte entfernt stehen. Brees und Saras Hände zogen mich nach oben und sie schleiften mich hinter sich her. Ich wehrte mich, versuchte mich dagegenzustemmen, aber ein rothaariges Mädchen trat mir immer wieder in die Kniekehlen, sodass ich zum weitergehen gezwungen war. „Sara", brachte ich gequält hervor, „bitte... Wir kennen uns wie lange? Vier Jahre? Bereite dem hier ein Ende, ich werde auch nicht gegen euch aussagen!" Sara Lippe zitterte, ihre Augen wirkten feucht, soviel konnte ich von der Seite erkennen, doch sie drehte sich von mir weg und überließ wem anders die Stelle an meiner Seite. Sie eilte nach vorne und wisperte etwas zur Anführerin, welche sich kurz darauf umdrehte und mich anblickte, dann aber wieder wegsah. „Du solltest dich nicht wehren", wisperte Bree mir zu und ich schüttelte resigniert den Kopf. „Damit ihr es leichter habt mich zu verprügeln?", fragte ich flüsternd mit Häme im Unterton. „Ich...", fing sie an, doch sie wurde von dem Mädchen zu meiner Rechten unterbrochen. Ich schaltete ab und ließ mich wegziehen, ich hatte keine Ahnung wohin sie mich brachten, aber ich gab auf. Tief im Innersten gab ich auf, ich konnte nicht mehr. Die Kälte des Winters kroch in meine Knochen, ich versteifte mich immer mehr und gerade als ich dachte wir würden niemals ankommen, ging eine Tür in einer dunklen Gasse auf und sie schubste mich hinein. Lena riss mich hinter sich her und ich stolperte über den gefliesten Boden, meine Schritte hallten von den Wänden wieder, welche von unzähligen Rohren bedeckt waren. Wir blieben vor einer weiteren Tür stehen, von der schon die rote Farbe abblätterte, es roch nach Moder und Rost. „Rein da!", befahl Sara, doch ihre Stimme wackelte verdächtig während sie mir die Anweisung gab. Zitternd legte ich meine Hand auf den Türknauf und drehte ihn herum. Dunkelheit umgab mich sobald ich durch die Tür ging, sie schloss sich hinter mir und ich war allein, allein in einem stockdusteren Raum. Ich hörte das Rauschen von Wasser, ein Poltern und Wackeln erschütterte immer wieder den Raum, so als würde ein Zug vorbeifahren. Ich tastete mich an den Wänden entlang und ließ mich in der hintersten Ecke nieder, es stank hier besonders stark nach Abwasser, aber diese Ecke schien mir am weitesten entfernt von der Tür zu sein. Wo war ich hier nur rein geraten?

Midnight Rain - Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt