Zusammenbruch

844 57 6
                                    

Ohne Zweifel, es ist Karma Akabane.

Asano:
Er hat die Augen geschlossen und hört Musik. Neben ihm auf dem Sitz liegt eine große Tasche. Ich setze mich zurück auf meinen Platz bevor er mich bemerken kann. Durch die Spiegelung der Scheibe kann ich ihn beobachten.
Nach ein paar Stationen steht er auf. Will er jetzt schon aussteigen? Er wohnt doch gar nicht hier. Die Station ist die ganz nah unserer Schule, aber Karma wohnt wie ich etwas außerhalb. Was will er um kurz nach Mitternacht noch hier draußen? Mein Gefühl sagt mir, dass ich dem nachgehen sollte und so stelle ich mich ein paar Türenweiter ebenfalls zum Aussteigen bereit. Als die Türen sich öffnen weht mir die kalte Nachtluft entgegen und ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke höher. Komisch das Wetter. Die letzten Tage war es sehr warm, aber die Nächte sind trotzdem immer sehr kalt.
Mit einem großen Abstand folge ich Karma, der die Straßen entlang läuft. Er scheint kein Ziel zu haben und läuft sogar zweimal im Kreis. So laufe ich ihm eine weile einfach nach ohne zu wissen warum eigentlich. Nach einer gefühlten Stunde überlege ich ihn einfach weiter seinen planlosen Weg laufen zu lassen und nach Hause zu gehen, da kippt er um. Seine Tasche fällt auf den Boden und er klappt daneben zusammen. Sein Kopf schlägt unsanft auf dem Boden auf.
Ich warte kurz doch als er sich nicht rührt renne ich zu ihm hin. Karma's Augen sind geschlossen und er zeigt keine Reaktion als ich ihn mehrmals versuche anzusprechen. Ich fühle an seinem Handgelenk nach dem Puls, dieser ist ganz normal und Karma Atmet auch ganz ruhig. Ich krame in meiner Jackentasche nach meinem Handy und tippe die Nummer des Notarzt ein. Gerade als ich den grünen Knopf drücken will hält mich eine Hand fest. Erstaunt schaue ich auf. Karma stützt sich wackelig auf einen Arm und hält mit der anderen Hand mein Handgelenk fest. "Nicht" sagt er leise.

Karma:
Als ich aus dem Zug aussteige fühle ich mich müde und erschöpft. Ich bin die Linie jetzt um die vier mal hin und zurück gefahren, doch jetzt brauch ich eine Pause von der stickigen Zugluft. Langsam laufe ich die Straßen entlang und sehe auf den Boden. Ich muss mich konzentrieren damit dieser klar erkennbar bleibt und nicht vor meinen Augen verschwimmt. Dadurch achte ich nicht auf den Weg und meine Umgebung. Ich starre nur immer weiter den Asphalt an. Meine Beine schmerzen bei jedem Schritt vor Erschöpfung und meine Tasche hängt mir schwer über die Schulter. Immer mehr verschwimmt die Straße und alles darum herum. Und in meinem Kopf ist plötzlich stille. Alle Gedanken haben drei Wörtern platz gemacht. 'Gib einfach auf'.
Dann ist alles schwarz. Ich fühle nichts. Ich sehe nichts. Ich bin gefangen in diesem nichts. Doch ich will ihm nicht entkommen. Es ist angenehm hier. Keine Schmerzen. Kein Kummer. Keine Angst. Und ich will mich diesem Nichts hingeben. Doch da höre ich eine Stimme. Sie kommt von weit her und klingt gedämpft. Anfangs verstehe ich sie nicht, doch die Worte werden immer deutlicher. "Karma, antwortete mir! Kannst du mich hören? Geht es dir gut? Hey, Karma!" 'Ich bin hier!' Will ich schreien doch nichts passiert. Die Worte bleiben nur in meinem Kopf. Langsam kann ich meine Augen öffnen, doch sehe ich alles nur verschwommen. "Ich muss den Notarzt rufen" sagt die Stimme.
Nein nicht der Notarzt. Niemand darf davon erfahren. Nicht mein Vater, nicht meine Mutter, einfach niemand.
Und da bewegt sich mein Körper. Er gehorcht mir wieder. Und ich greife nach der Hand des Unbekannten um ihn davon abzuhalten die Nummer einzugeben. "Nicht" schaffe ich es zu sagen. Meine Augen versuchen immernoch verzweifelt zu fokussieren und meine Beine wollen nicht mehr. Mein Kopf dröhnt vor Schmerz. Ich bin ein frak, denke ich. Und dann wird wieder alles schwarz.

Asano:
Er hält mein Handgelenk weiter fest und ich packe mein Handy weg. Ich schaue ihm in die Augen, doch er scheint mich gar nicht richtig zu sehen. Dann lockert sich sein griff um mein Handgelenk und er liegt wieder reglos am Boden. Ich müsste jetzt den Notarzt rufen, sagt mir mein Verstand, doch mein Herz sagt etwas anderes. Ich kann das nicht. Karma will es nicht. Also werfe ich mir seine Tasche über die Schulter und hebe ihn hoch. Ich bin verblüfft, dass ich keinerlei Probleme habe ihn mit beiden Händen zu heben. Und da fällt mir auf wie dünn Karma ist. Er wirkt zerbrechlich. Doch was sollte mich das kümmern? Er ist nur ein Schüler an meiner Schule der zufällig mein Rivale ist. Ich habe meine eigenen Probleme. Das sollte ich denken, sagt mir mein Verstand. Doch auch diesesmal gewinnt ein anderer, bisher noch unterdrückter teil in mir. Der Teil der diesem Jungen helfen will. Ich schüttel den Kopf. Was ist nur los mit mir? Ich schiebe den Kampf meiner Gefühle beiseite und laufe los. Ich muss dringend die Platzwunde an seiner Stirn säubern und verbinden. Die nächste Bahn kommt erst in einer Stunde und bis zu mir nach Hause ist es maximal eine Viertel Stunde.
Den ganzen Weg über bewegt sich Karma kein Stück und ich überlege mehrmals doch den Notruf zu wählen. Doch dann erinnere ich mich immer wieder an diesen flehenden Blick in seinen Augen.
Zuhause angekommen lege ich ihn auf mein Bett und fühle nochmal seinen Puls. Scheint alles normal zu sein. Ich hole einen nassen Lappen und einen Verband aus dem Bad. Neben dem Bett kniehe ich mich hin und tupfen die Wunde mit dem Lappen vorsichtig sauber. Dann verbinden ich die Wunde mit dem Verband. Leise ziehe ich mich um und gehe nebenan ins Gästezimmer. Mein Vater ist heute wohl nicht von der Arbeit nach Hause gekommen, denn seine Schuhe standen nicht da. Also wird er auch morgen keine fragen wegen Karma stellen können, wenn er nicht einmal weiß das er hier war. Das erleichtert mir eine lange Erklärung.
Leer starre ich an die Decke. Ich habe fragen. Viele fragen. Doch die Antwort bekomme ich wohl erst frühestens morgen. Von nebenan kommt ein leises Husten, doch es bleibt sonst alles ruhig.
Nach wenigen Minuten schlafe ich ein.

We all wear a mask (Boy×Boy) (nicht abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt