Henrys Sicht:
„Ich geh' da aber nicht hin, Gabriel!" Ich habe ihm die Einladung wieder aus der Hand gerissen und ihn fest angeschaut. „Was? Wieso nicht? Es gibt Essen und Getränke umsonst!", hat er sich ereifert und das Stück Karton wieder zu sich herangezogen, ohne es aus meinen Fingern zu lösen. „Und schau, du kannst deine Familie mitbringen! Nimm mich mit, das wird lustig!"
Dass es lustig werden würde, habe ich mir nicht vorstellen können, als vor einigen Wochen die offizielle Einladung zur Firmen-Weihnachtsfeier kam. Aber Gabriel hatte einen Schmollmund aufgesetzt und mir augenklimpernd erklärt, dass er selbst nie zu so etwas eingeladen werden würde, schließlich ist er selbstständig und bekommt höchstens mal eine Weihnachtskarte von einem seiner Kunden.
So betreten wir nun doch nebeneinander das Restaurant, das Donald für uns gebucht hat. Oder war es Donalds Vorgesetzter? Jedenfalls hat der neue Chef vor, bei der Feier in Kontakt mit seinen Angestellten zu kommen und eine förderliche Arbeitsatmosphäre zu schaffen. Ich drücke Gabriels Hand, als ich die ersten Gesichter meiner Kollegen erkenne, gemischt mit fremden Personen, die deren Begleitung sein müssen. „Du kannst deine Familie mitbringen! Nimm mich mit!", klingt mir im Ohr nach und ich frage mich erneut, ob das nun bedeutet, dass Gabriel meine Familie ist, oder ob er lediglich auf das kostenlose Buffet abfährt.
„Welche sind deine Leute?", raunt er in mein Ohr und reißt mich aus meinen Gedanken. Meine Leute? Das Restaurant ist für die Privatfeier gebucht, das alles hier sind meine Kollegen und deren Familien. „Ähm... Das da vorne ist Magda, sie stellt die Texte für die Geografiebücher zusammen.", stelle ich ihm wahllos aus der Ferne eine ergraute Dame vor, die seitlich zu uns steht. Ich kenne sie nur aus der Kantine, weil sie wie ich immer auf das glutenfreie Essen wartet.
„Cool.", sagt Gabriel und zieht mich in ihre Richtung. Ehe ich protestieren kann, stehen wir vor ihr und sie lächelt uns an. „Harry, Sie sind ja auch da!", grüßt sie fröhlich und schüttelt mir die Hand. Ich merke, dass ihre Freude echt ist, kann ihr den Fehler nicht verdenken. Immerhin haben wir uns einander nie wirklich vorgestellt. „H-Henry.", korrigiere ich leise. „Das ist Gabriel.", erkläre ich dann noch und deute auf den gutaussehenden Mann neben mir. Ganz kurz weiten sich Magdas Augen in Überraschung: Ob es ist, weil ich nicht allein komme, oder weil ich einen Mann mitbringe, kann ich nicht erkennen.
„Gabriel, wie schön!", flötet sie, überschwänglich wie immer, schüttelt dann auch seine Hand. „Lassen Sie mich raten... Sport und... Englisch?" Gabriel lacht. Er hört die minimale Abwertung nicht, die hinter ihren Worten steckt, denn beim Verlag sind Sportlehrer nicht gerade die anerkanntesten Pädagogen. Ich sehe ihn an, als der den Kopf leicht in den Nacken wirft und kann wieder nur daran denken, wie sehr ich ihn liebe. „Oh nein, ich unterrichte nicht, das wäre mir viel zu gefährlich! Ich bin in der IT-Branche unterwegs." Magda lacht ebenfalls und irgendwie gelingt es Gabriel, sie in ein Gespräch zu verwickeln, das schließlich eine Traube um uns entstehen lässt. Fast zehn Kollegen stehen um uns herum, alle wollen wissen, wer der hübsche junge Mann ist, der mit Leichtigkeit die Fremden unterhält und zum Lachen bringt.
Ich merke, wie ich neben ihm zusammenschrumpfe. Es ist unerklärlich für mich, wie leicht ihm das alles gelingt, während ich mit keinem von ihnen so sprechen kann, obwohl ich ihnen seit Monaten im Büro über den Weg laufe. Ich kann ihn gleichzeitig bewundern, stolz darauf sein, dass er mich begleitet, und spüren, wie ich am liebsten weglaufen und mich irgendwo verbarrikadieren würde. „Wieso ist dieser interessante, charismatische Mensch mit dem kleinen Streber hier, dessen Namen ich nicht kenne?" Wenn ihre Blicke von Gabriel zu mir gleiten, schreien sie mir den Vorwurf förmlich entgegen. „Was hat der getan, um so jemanden bei sich zu haben?"
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Oh, Henry (boyxboy)
RomanceAls Henry bei Gabriel in das freie Zimmer einzieht, ist dieser hin und weg. Er denkt ständig an Henry, stellt sich vor, wie es wäre... Aber er weiß, dass es dazu nie kommen wird. Nicht nur, weil Henry vermutlich viel zu süß und unschuldig ist, um si...