Stolz (18. Juli)

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Meine Entschuldigung, dass es so lange gedauert hat! Aber ein Ende bin ich euch und den beiden hier noch schuldig. Es folgen hiernach noch zwei Kapitel. Ich hoffe, dass das Ende zufriedenstellend für euch wird :)


„Bist du soweit?" Kaum, dass ich die Frage durch die Wohnung gebrüllt habe, kommt Henry aus seinem Zimmer über den Flur getänzelt und mir stockt der Atem. Er wollte sich umziehen. So kann er doch nicht das Haus verlassen.

Er dreht sich unter meinem ungläubigen Blick einmal im Kreis und verneigt sich kichernd. „Was?" Ich erkenne die Klamotten, die er trägt, nicht wieder. Woher hat er diese viel zu kurze Jeans? Hat er sie selbst gekürzt, sodass sie nicht mal zur Hälfte seiner Oberschenkel hinabreicht? Und wieso besteht sein Shirt ab der Höhe seines Rippenbogens nur aus Fransen, die keck seinen flachen Bauch umspielen? Bei seiner Drehung entblößen sie die makellose Haut, wippen noch immer nach, sodass nach jedem Schwung für kurze Zeit sein Bauchnabel sichtbar wird.

Ist das wirklich nötig? Ich verstehe ja, weshalb er zu dem Fest will. Sich genau das beweisen, woran er so lange gezweifelt hat. Dass er wertvoll und normal ist, ganz egal, wie er fühlt und was seine Ängste sind. Aber so kann er nicht raus gehen.

Ich schüttele langsam den Kopf. „Das kannst du doch nicht machen, Henry.", flüstere ich. Ich kann ihm nichts vorschreiben, das wissen wir beide, aber er soll doch wissen, worum ich mir Sorgen mache. Verdattert lacht er mich an, dann sinken seine Mundwinkel erkennend herab. „Ich sehe lächerlich aus, oder?", schlussfolgert er.
Erschrocken trete ich auf ihn zu und umfasse seine Hände. Ziehe ihn näher heran und lege meine Finger stattdessen auf seiner Taille ab. Zwischen den Stoffstreifen berühre ich an etlichen Stellen seine warme, glatte Haut. Meine Finger kribbeln, ein warmes Wogen bricht sich in meinen Organen Bahn. Müssen wir wirklich dahin? Können wir nicht hier bleiben? Nur er und ich und dieses verbotene Outfit?

„Im Gegenteil, du siehst heiß aus.", raune ich in sein Ohr, beobachte voller Genugtuung, wie die Härchen an seinem Hals sich mir entgegen richten. „Zu heiß.", füge ich eine Erklärung für meine Reaktion mit an.

Zu meiner Enttäuschung tritt Henry zurück, sodass meine Hände von seinen Hüften abfallen und trostlos neben meinem Körper baumeln. „Was soll das heißen?" Seine Stimme ist nicht so fest, wie erwartet, viel mehr klingt er zittrig, aus dem Konzept gebracht.

Entschuldigend lächle ich ihn an, strecke ihm eine Hand erneut entgegen, die Innenfläche unschuldig zu ihm zeigend. Er ignoriert sie und ich antworte trotzdem. „Nur dass ich dich am liebsten gegen die nächste Wand pressen und verschlingen will.", erkläre ich halbwegs nüchtern. „Und dass es der Hälfte der Männer da genauso gehen wird."

Der Hauch eines triumphierenden Lächelns schleicht sich auf Henrys Gesicht, das ich nur durch das begleitende Funkeln in seinen Augen entlarven kann. Welcher Teil meiner Aussage vergnügt ihn so?, geht es mir aufgebracht durch den Kopf. Schließlich überbrückt er die Distanz selber und spricht seinerseits mit gedämpfter Stimme in mein Ohr.

Es ist nicht neu, dass er die Zügel in die Hand nimmt. Irgendwann hat er sich einfach getraut und etwas ausprobiert. Dinge, die er von mir kannte, oder von denen er gelesen hat. Einmal kniete er mitten in der Nacht über mir und erklärte, er wolle es in der Reiterstellung tun. Vollkommen perplex hatte ich meine Mühe, ihn zu überzeugen, mich erst einmal schlafen zu lassen und mich am Morgen daran zu erinnern. Als wolle er all das an Sex nachholen, das er in den vergangenen Jahren ausgelassen hat, saugt er alles auf, das ich ihm bieten kann. Und immer wieder stelle ich mir die Frage, ob ich seiner unstillbaren Neugier auf lange Sicht genügen werde.

Dennoch ist es jedes Mal neu und aufregend für mich, wenn er das Ruder herumreißt, mich mit seiner Initiative überrascht. „Soll das heißen, du wirst mich nicht vor denen beschützen?", haucht er an mein Ohr, klingt dabei, als würde er schmollend die Unterlippe vorschieben. Ich beiße mir von innen auf die Wange bei diesem Klang, um meine Worte von zuvor nicht wahr zu machen. „Das soll heißen, dass ich Angst habe, dass du nicht beschützt werden willst." Meine Stimme klingt rau und ich weiß selbst nicht, was ich mit den Worten zum Ausdruck bringen will. Was ich fürchte, ist, dass er es genießen wird, begafft und gewollt zu werden. Dass er jemandem begegnet, der ihm auch gefällt.

„Gabriel." Das Neckische ist schlagartig aus seiner Stimme und seinem Auftreten verschwunden. Er betrachtet mich mahnend. „Ich will, dass du mich beschützt, denn ich interessiere mich für niemanden außer dir." Er scheint mittlerweile genau zu verstehen, was in meinem Kopf vor sich geht. Sanfter spricht er weiter. „Ich will mich bloß gut und schön fühlen. Mal nicht darüber nachdenken, was andere von mir halten. Wir sind in einer anderen Stadt, keiner kennt mich da. Ich kann sein, wie ich will."

Ich beeile mich zustimmend zu nicken und muss in dem Moment an die Therapeutin zurückdenken, die er anzurufen so lange gehadert hat. Dann hat er sich tatsächlich dafür entschieden, zwei probatorische Sitzungen gehabt. Guter Dinge ist er nach der zweiten nach Hause gekommen und hat seine Erfahrung für mich zusammengefasst. „Sie ist der Meinung, dass ich vielleicht diese Krankheit haben könnte. Und ich bin der Meinung, dass ich mir so viele Gedanken darüber mache, was sie bei jeder einzelnen Bemerkung von mir über mich denkt, dass es das nur noch schlimmer macht." Er konnte seine Lage als ausreichend handhabbar einschätzen und hat die nächsten Schritte mit sich selbst ausgemacht. Mich zu Treffen mit meinen Freunden begleitet. Mit einzelnen von ihnen von sich aus Unterhaltungen begonnen. Zwei seiner Kolleginnen näher kennengelernt, die ihn nur zu gerne zu ihrem zweiwöchentlichen Sektabend einluden, der nun einmal im Monat bei uns stattfindet. Und schließlich hat er es sich in den Kopf gesetzt, zu diesem Fest zu gehen. An der Parade teilzunehmen. Damit er sein kann, wer er will.

„Okay.", lenke ich ein. Vielleicht mache ich mir noch immer Sorgen, ihn nicht vor den Blicken der anderen Männer abschirmen zu können, doch ich verstehe, dass er diese Erfahrung machen will. Und dass womöglich genau diese Blicke ihm guttun könnten.

„Ich habe eine Idee, damit du dich besser fühlst.", tischt er mir plötzlich auf und grinst verschmitzt. Sein Zeigefinger gleitet sanft über meinen Kehlkopf, dann bestimmend über meine Brust hinab, bis er auf meinem Hosenbund zum Liegen kommt. Als er sich abrupt abwendet und durch die Küchentür verschwindet, entweicht mir unbewusst angehaltener Atem. Was war das denn Verheißungsvolles? Und was für ein Hilfsmittel braucht er dafür?

Voller Erwartung erschrecke ich dann doch, als er mit einer Schere auf mich zukommt und mich am Stoff meines Shirts zu sich zieht, ehe ich zurückweichen kann. Was hat er vor? Dass es nicht um Sex geht, erleichtert mich plötzlich, auch wenn ich mittlerweile bereit bin, so einiges mit ihm auszuprobieren, wenn es ihn glücklich macht. Stattdessen setzt er die Klingen unvermittelt an dem Baumwollgewebe an und vollführt den ersten Schnitt, bevor meine Proteste erklingen. „He, das ist mein Lieblingsshirt!"

Gemeinsam schauen wir herab auf das durchschnittlich graue V-Nacken-Shirt, in dem nun eine waagerechte Lücke klafft, dort, wo mein Brustmuskel in den Bauch übergeht. Henry sieht mir feixend in die Augen und schneidet ohne hinzusehen zuversichtlich weiter. Erst, als ein nicht unerheblich großer Fetzen zwischen uns zu Boden gleitet, und ich mich unwillkürlich frage, ob ich draußen nicht frieren werde, ist er zufrieden. „Du hast noch sechs Stück im Schrank liegen, die haargenau so aussehen.", behauptet er leichthin.

Dann sind seine schlanken Finger an meiner entblößten Haut, malen bedeutungsvolle Muster, die ich auf den Kopf gedreht nicht entziffern kann. „Das sollte dich etwas beruhigen.", erklärt er, doch mein Blick bleibt verständnislos. „Bleib einfach in meiner Nähe." Er grinst. „Dann wird mich niemand beachten."

Oh, Henry (boyxboy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt