Die verliebte Schwester

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15. November 1891

Anne Davies

"Es ist einfach unerhört!", polterte meine Mutter, die Arme hoch über dem Kopf erhoben und wild gestikulierend. "Es ist unerhört, meine Tochter zu belästigen!"
"Aber Liebes, er hat sie doch nur angesprochen!", versuchte mein Vater sie zu beruhigen.
Meine Mutter dachte aber nicht daran, sich zu beruhigen. Nur weil ein Junge der Mittelschicht meine Schwester angesprochen hatte, drehte meine Mutter durch. Es war mir bewusst, dass Jane insgeheim in ihn verliebt war. Sie gingen zusammen auf dieselbe Schule, wo sie sich jeden Tag sahen. Man sah es an ihren Blicken, dass Henry auch etwas für Jane, meine kleine Schwester, empfand.
Was meiner Mutter aber gehörig missfiel.
"Aber Mutter, er hat doch nichts gemacht. Er hat mich doch nur umarmt und ..."
Mutter wurde hellhörig. "Er hat was?"
Jane schlug sich die Hand vor den Mund.
"Er hat dich angefasst? Jane, du bist erst fünfzehn Jahre alt, du bist noch zu jung für sowas. Und warum ausgerechnet Henry Jones? Über den so viele Gerüchte im Umlauf sind."
Mutter redete sich immer mehr in Rage. Das Jane anfing, sich in den Augen meiner Mutter zu verlieben, ging ihr gehörig gegen den Strich. Normalerweise war sie es, die die unsere Liebschaften erst anerkennen musste, bevor daraus etwas Ernstes werden konnte.
Ihr Ururgroßvater war der Duke of Kent gewesen, und das machte sie sehr stolz, vielleicht auch etwas zu stolz. Das Problem war, dass Henry Jones der Mittelschicht angehörte, und wir uns schon einen gewissen Luxus leisten konnten. 
Und wenn sie nicht einverstanden war, durften wir diese Person nicht mehr treffen, ich wollte mir ihm Traum nicht vorstellen, was Mutter mit mir machen würde, wenn ich mich ihren Anweisungen widersetzen würde.
"Jane, Mutter hat recht. Sie will dich doch nur schützen!", sagte ich, in der Hoffung, Mutter würde sich beruhigen. Doch stattdessen wurde jetzt Jane laut.
"Du musst es gerade wissen!", pfefferte sie mir entgegen. "Du bist schließlich glücklich verheiratet und trägst ein Kind in dir. Du hast jemanden an deiner Seite. Hör auf mich zu belehren."
"Rede nicht so mit deiner Schwester", schimpfte Vater. "Sie ist bereits erwachsen."
Ich weiß, dass ich eigentlich nicht gekränkt sein sollte, weil es ja schließlich reiner Frust war, der aus meiner Schwester spricht. Jedoch ließen ihre Worte mich nicht ganz unberührt. Sie war doch meine Schwester, ich sorge mich doch nur um sie.
Als Jane merkte, wie ich den Kopf senkte, wurde sie wieder sanft.
"Es tut mir leid, Anne. Das hätte ich nicht sagen dürfen, es ist ..."
"Es ist gar nichts", meldete sich Vater erneut.
"Bitte sei vorsichtig, Jane - Elizabeth, lass gut sein", sagte Vater, als Mutter protestieren wollte. "Geh jetzt zu Bett."
Mit einem knappen Nicken stand Jane vom Tisch auf und verschwand aus dem Raum.
Ein paar Sekunden hielt diese Stille an, bis meine Mutter wieder zu brüllen anfing.
"Ist das dein Ernst, John? Bitte sei vorsichtig? Sie soll mit diesem Jungen nie wieder in Kontakt kommen! Die Gerüchte über ihn sind beunruhigend."
Vater verdrehte die Augen. "Elizabeth, bitte! Glaubst du ernsthaft, dass Henry Jones sich jede Nacht eine neues Fräulein ins Bett nimmt? Das sind doch alles nur Gerüchte! Ammenmärchen!"
Falls das ohnehin schon blasse Gesicht von Mutter noch blasser werden konnte, geschah es just in diesem Moment. Sie hatte keinerlei Farbe mehr im Gesicht und sah aus wie eine Leiche, die aus dem Grab geklettert ist.
"Und was war mit Rose Winston? Es heißt, nach einer Nacht mit Jones war sie traumatisiert. Komplett neben der Spur! Willst du etwa, dass deiner Tochter dasselbe passiert?", ereiferte sich Mutter.
"Rose Winston war nicht traumatisiert! Sie hat sich im übrigen nie mit Henry Jones verstanden. Sie sind nur auf dieselbe Schule gegangen, sonst hatten sie rein gar nichts gemeinsam."
Es wunderte mich, dass Vater dies alles wusste. Ich glaubte zu Wissen, dass Jane mit Rose Winston sogar gut befreundet war.
"Woher willst du das wissen?", fragte ich Vater.
"Ich habe mit Rose' Vater in der Fabrik gearbeitet, und mit Mr Jones auch."
"Hast?"
"Sie sind im Sommer nach Newcastle gezogen."
Ich kannte Mr Winston nicht, und auch Rose war mir nie begegnet. Ich kannte sie nur von Janes Erzählungen, dass sie im Sommer immer auf den Markt gegangen sind, um frische Blumen zu kaufen.
Oder wie sie im Winter vor dem Kamin in einem Buch lasen.
"Wie auch immer", sagte Mutter auf einmal.
"Dieses Thema ist noch nicht beendet. Wenn meine Tochter sich schon verliebt, dann bitte auch einen, der ihrer angemessen ist. Gute Nacht, meine Lieben."
Mutter ging aus der Tür und wir hörten noch ihre Schritte auf der Treppe verklingen.
Vater seufzte. Die Arbeit in der Fabrik hatte ihn geschwächt. Es fingen an, graue Haare aus seinem Kopf zu sprießen, und er konnte nur mithilfe eines Gehstocks vernünftig laufen. Obwohl das Alter sich bei ihm so langsam bemerkbar machte, versuchte er es so weit es ging zu verdrängen.
"Geh auch schlafen, Anne. William müsste bald da sein."
Ich nickte. "Na schön. Gute Nacht, Vater."
Da mein Ehemann William Anwalt war, konnten wir eine Familie gründen, ohne Angst vor finanziellen Abgründen. Dank der Abstammung meiner Mutter war sie im Kensigton Palace bei Ihrer Majestät angestellt und kam deshalb auch immer spät nach Hause. Selten musste sie auch dort bleiben.
Ich war oft sehr einsam, wenn William nicht da war. Meinen Alltag verbrachte ich mit putzen und kurzen Spaziergängen. Abends las ich etwas bevor William nach Hause kam.
Ich wusste, wie es Jane gehen musste. Sie war jung und sehnte sich nach Liebe.
Was sie jedoch nicht wusste, war, dass meine Ehe mit William auch erst von Mutter anerkannt werden musste.

Die Schwestern von Swanfield ManorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt