Der Unfall

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Swanfield Manor

Irgendwo an der Westküste von England

Sie fand ihn auf seinem Balkon.
Nachdem sie ohne ein Klopfen in sein Zimmer gestürmt war, die Rockschöße gebauscht von schnellen Laufen, schenkte er ihr nicht die geringste Aufmerksamkeit.
Sie sah ihn mit dem Rücken zu ihr an der Brüstung, die Hände hatte er in den Taschen vergraben, um sie vor der Kälte zu schützen.
Er hatte die Augen geschlossen, hörte aber den Eindringling näher treten.
Das konnte nur einer seiner Schwestern sein! Und auch nur diejenige, die es wagte, ohne zu Klopfen in seine Gemächer zu stürmen.
"Was bedrückt dich, Schwester?", fragte er, sah sie aber nicht an.
Er hörte sie keuchen und nach Luft schnappen, offenbar war sie gerannt.
"Es ist etwas passiert!", keuchte sie mit hochrotem Kopf.
Er sah sie immer noch nicht an. "Wie kommst du darauf?", fragte er ruhig.
"Ich weiß es einfach!", sagte sie. "Und unsere Schwestern spüren es auch, ebenso wie ich."
Das er sie immer noch nicht ansah, und es ihm allem Anschein nach gleichgültig war, was seine Schwestern beängstigte, machte sie rasend.
"Sag mir nicht, du spürst es nicht? Ihm ist etwas passiert?"
"Was denn?"
"Etwas furchtbares!"
"Was kann unserem Bruder denn schon zugestoßen sein?", fragte er mit eisiger Stimme, die sie erschaudern ließ.
Erst jetzt drehte er sich um und sah seiner Schwester in die schreckgeweiteten Augen.
"Was soll ihm passiert sein, Schwester?", fragte er abermals. "Gehe in dich und finde es heraus! Du kannst das!"
Sie schloss die Augen und begann, sich auf ihre Gedanken zu konzentrieren.
"Ich sehe Feuer, und viele Menschen ... ich höre ... Gekreische und Pferdetrappeln. Etwas steht in Flammen ..." Sie kniff die Augen fester zusammen. "Ich sehe Menschen auf Feuer zurennen ... und ich höre jemanden, der um Hilfe schreit!"
Sie öffnete die Augen wieder, und musste sich an der Brüstung des Balkons festhalten, um nicht dem Schwindel zu erliegen und in Ohnmacht zu fallen.
Er schlich auf sie zu und legte ihr einen Arm um die Schulter. Tränen hatten sich in ihren Augen gebildet. "Ich glaube, unserem Bruder geht es gar nicht gut!", schluchzte sie und begann zu weinen.
Er berührte mitfühlend ihre Wange. "Nein, ich glaube es geht ihm überhaupt nicht gut.
Ich habe dasselbe gesehen wie du jetzt! Ich habe es nicht für wichtig gehalten, und doch spüre ich, dass es etwas nicht stimmt." Er schwieg kurz.
"Schwester, ich glaube, unser Bruder ist von uns gegangen. William ist tot."

London

8. Dezember 1891

Big Ben kündigte die erste Stunde des neuen Tages an, und William war immer noch nicht da, um mit mir das Bett zu teilen. Vermutlich hatte Mutter ihn irgentwie dazu überredet, noch ein bisschen länger zu bleiben, was typisch für sie war.
So, wie ich meinen Vater kannte, amüsierte er sich prächtig, wie ein junger Mann bei seiner Hochzeit.
William, so vermutete ich, war den ganzen Abend damit beschäftigt, nicht zu viel zu trinken. Aber bei ihm machte ich mir keine Sorgen, dass er betrunken nach Hause kommen würde.
Jane und ich hatten uns den Abend so schön wie möglich gemacht. Wir hatten vor dem Kamin einen Liebesroman gelesen und uns dabei im Arm gehalten. Wir hatten gegen unsere Großeltern eine Partie Schach gespielt, und dank dem Geschick meiner kleinen Schwester, sogar gewonnen.
Nachdem meine Großeltern sich zurückgezogen hatten, ging auch Jane ins Bett, doch nicht ohne mir vorher einen Gute-Nacht-Kuss auf die Wange zu drücken.
Das hatte sie schon sehr lange nicht mehr gemacht. "Schlaf gut, liebste Schwester", hatte sie gesagt, während sie langsam ihre Tür schloss.
Es war ein schöner Abend gewesen, so ruhig und friedlich. Irgentwie war es toll, dass die Streitereien zwischen Jane und Mutter mal nicht durch das ganze Haus hallten.
Einmal hatte Großvater Lawrence gesagt, dass es die ganze Medway Street hören müsste, wenn man auch nur ein Fenster öffnete.
Ich lächelte angesichts der Erinnerungen an den Tag, löschte das Kerzenlicht und legte mich schlafen.

Die Schwestern von Swanfield ManorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt