Der Krähenmann

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Als Anne und ich wieder in den Salon traten, war uns, als ob wir erblinden würden.
Überall funkelte und glitzerte es. Woher mein Bruder das ganze Weihnachtszeug hergezaubert hatte, war mir nicht klar, doch das war im Moment auch nicht wichtig.
Der Anblick, der sich mir vor meinen Augen bot, benebelte all meine Sinne.
Über dem Kamin hingen tudorgrüne Girlanden, in denen rote Bänder eingeflochten waren, und auf dem Fenstersims waren Kerzen angezündet.
Auf dem Boden war eine Krippe aufgestellt, die die Geburt von Gottes Sohn in der Szene festhielt, wo sich Maria, Josef und die heiligen drei Könige über das Jesuskind in der Krippe beugten.
Meine Schwestern Amelia und Julia halfen James dabei, einen Mistelzweig an der Decke aufzuhängen. Mrs Thompson breitete unterdessen weitere funkelnde Girlanden, diesmal aus Rot und Gold, auf den Fensterbänken aus.
Auf einem Fenstersims, welche der größte von allen war, stand eine prächtige Miniaturkirche, dessen Turm von funkelndem Schnee bedeckt war.
Noch nie habe ich den Salon so wunderschön geschmückt gesehen.
"Gefällt es dir, Schwester?", fragte mich Julia, als ihr mein verzaubertes Lächeln auffiel.
"Ob es mir gefällt? Aber natürlich gefällt es mir!"
Ich kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Plötzlich dämmerte mir, dass Anne immer noch neben mir stand und sich nicht vom Fleck gerührt hatte.
Sie lächelte nicht, ihre Mundwinkel zuckten nicht mal.
"Anne, was hast du?", fragte Amelia und war urplötzlich an Annes Seite. Ich ergriff besorgt ihre Hand, als ich sah, wie Tränen sich in ihren Augen sammelten.
Noch bevor ich weitere Fragen stellen konnte, sagte sie: "Entschuldigt mich bitte!"
Mit diesen Worten entzog sie mir ihre Hand, wirbelte herum und stürmte aus dem Raum.

Anne Swan

Ich riss die Tür zu meinem Gemach auf und ließ mich auf das Bett fallen.
Die Tränen bildeten eine Nachbildung der Themse auf meinen Wangen.
Meine Augen brannten.
Als ich mit Elizabeth in den wunderschön geschmückten Salon getreten war, wurde ich mir der schmerzlichen Realität wieder bewusst. Und zwar, dass es das erste Weihnachtsfest sein würde, welches ich ohne meine Familie feiern würde. Ohne Janes aufgeregtes herumhüpfen und ohne ihre schlaflosen Nächte, die sie immer bei mir verbracht, weil sie vor lauter Aufregung kein Auge zu tat.
Das missbilligende Gemurmel meines Vaters, wenn Jane und ich es nicht mehr erwarten konnten, endlich unter den Christbaum zu schauen, und auf den Päckchen unseren Namen zu finden.
Einmal, ich müsste dreizehn oder vierzehn gewesen sein, versuchte ich Jane zu überreden, nicht so lächerlich herumzuhüpfen, weil sich sonst die Rentiere erschrecken und von dannen fliegen würden. Doch so sehr ich es auch versucht hatte, Jane ließ sich einfach nicht beruhigen, stürmte ins Wohnzimmer und sprintete so schnell auf den Christbaum zu, dass sie dagegen stieß und der Baum drohte, umzukippen.
Angesichts dieser Erinnerungen an meine Kindheit stahl sich ein Lächeln auf mein tränennasses Gesicht.
"Anne." Ich hob den Kopf und sah Amelia vor mir stehen. Langsam ging sie auf mich zu, kniete sich vor mich hin und nahm meine Hände in die ihrigen. "Was fehlt dir?"
Ich erklärte ihr, dass es das erste Weihnachtsfest ohne meine Familie sein würde. Als ich endete, stand Amelia auf und legte mir den Arm um die Schulter.
"Oh, arme Anne." Ich bettete meinen Kopf auf ihre Schulter und sie begann, mir langsam durch die Haare zu fahren, wie Mutter es immer getan hat, wenn ich traurig war.
"Dieses Weihnachtsfest wird für uns alle anders, und wir sollten versuchen, dass Beste daraus zu machen." Amelia stand auf und ging zur Tür, dort hielt ich sie auf.
"Amelia, warte", rief ich. "Meinst du, ich könnte meiner Schwester schreiben?"
Sie zögerte kurz, wie schon letztes Mal, als ich sie darum bat.
"Gerne. Ich schicke dir später einen Boten."
Sie ging hinaus, und ich setzte mich sofort an den Schreibtisch, nahm die Feder aus dem Tintenfässchen und begann zu schreiben.

Devon
England

24. Dezember 1891

Die Schwestern von Swanfield ManorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt