Amelia Swan

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Devon, England

10. Dezember 1891

Ich schwebte mühelos über hügelige Landschaften, die sich von meiner Heimat ganz und gar unterschied. Raus aus dem stinkenden London, und hinaus auf Weideland mit endlosen Graslandschaften.
Unter mir war ein riesiger Wald, dessen Nadelbäume hoch in den Himmel schossen.
Es wirkte wie ein Märchenland, es hatte absolut gar nichts mit London und seinen gepflasterten Straßen und Wegen gemeinsam.
Hier war alles weit und grün, roch vermutlich frisch und nach Lebenslust, und weckte meine Lebensgeister.

Der Raum, in dem ich aufwachte, war mir fremd. Als ich aus dem Fenster blickte, sah ich, dass die Sonne noch nicht aufgegangen war.
Im Kamin prasselte ein herrliches Feuer, an dem ich mir meine kalten Hände wärmen wollte, doch ich konnte nicht aufstehen.
Mein Körper schien an dieses Bett, auf dem ich lag, gefesselt zu sein.
Das Bett hatte einen Baldachin, an dem schwere Samtvorhänge herunter hingen.
Und soweit ich es spüren konnte, war es relativ gemütlich. Doch die Tatsache, dass ich mich nicht bewegen konnte, zerstörte dieses Gefühl.
Wo war ich?
Ich kann mich nicht an die Ereignisse an den letzten Tage erinnern. Ich weiß nur noch, dass jemand in meinem Zimmer aufgetaucht war, und mich in einen Spiegel - oder was auch immer es war - reinsehen lassen hat.
Mein Herz begann in meiner Brust wild zu hüpfen, in dem Glauben, dass ich offenbar entführt worden war.
Mit einem leisen Knirschen öffnete sich die Tür, und eine junge Frau lugte herein.
"Oh gut! Sie sind wach!", sagte sie und trat zu mir ans Bett. "Na endlich."
Sie musste ungefähr so alt wie ich sein, vielleicht etwas älter, und ich war mir sicher, dass sie mich um etwa einen halben Kopf überragen würde. Ihr Körper glich dem einer Elfe aus einem Märchenbuch.
"Wer sind Sie? Und wo bin ich?" Meine Stimme klang brüchig.
"Mein Name ist Amelia Swan, und Sie sind hier auf Swanfield Manor, Miss Brown."
Ich erstarrte. "Woher kennen Sie mich?"
Sie blickte mich argwöhnisch an. "Sie waren doch die Ehefrau meines Bruders, nicht wahr?"
"William", flüsterte ich, und die Tränen bahnten sich einen Weg zurück in meine Augen. Amelia Swan nickte nur.
"Ja, meine Schwester und mein Bruder haben Sie vor zwei Tagen zu uns geholt, damit Sie hier weiterleben können."
"Moment, vor zwei Tagen?" Ich konnte doch unmöglich zwei ganze Tage geschlafen haben.
Amelia nickte widerwillig. "Ja, mein Bruder James hat Sie so stark hypnotisiert, dass Sie tatsächlich zwei Tage lang geschlummert -"
"Ist sie wach?" Jemand platzte herein, und Amelia drehte sich kreischend Richtung Tür.
Eine weitere junge Frau, etwa in Janes Alter, stand im Türrahmen.
Amelia blickte sie wütend an. "Habe ich dir nicht beigebracht anzuklopfen? Ich unterhalte mich gerade!"
Das Mädchen hüpfte aufgeregt näher und musterte mich. "Hmm, sie hat etwas Cousine Aileen, nicht wahr?"
Amelia verdrehte die Augen. "Miss Brown, dies ist meine jüngste Schwester, Elizabeth Swan", sagte sie. "Die Verrückteste in der ganzen Familie!", fügte Amelia leise hinzu.
"Und wie heißt du?", fragte mich Amelias Schwester Elizabeth.
"Anne", sagte ich. "Anne Davies."
Elizabeth begann zu kichern. "Oh, bist keine Davies, meine Liebe. Wenn schon, dann eine Swan -"
"Sei still!", zischte Amelia.
Elizabeth verstummte augenblicklich, und setzte ein unschuldiges Lächeln auf.
Ich wandte mich Amelia zu. "Verzeihung, Miss Swan, aber warum kann ich mich nicht bewegen?" Keine Ahnung, warum ich genau das fragte, aber angesichts der Umstände schien mir das das logischste zu sein.
"Amelia, bitte." Sie lächelte mir zu. "Das liegt an der Methode, mit der mein Bruder Sie zu uns gebracht hat", erklärte sie, doch ich verstand rein gar nichts.
"James hat dich hypnotisiert, nicht wahr?", fragte Elizabeth mit hochgezogenen Augenbrauen. Sie musste meinen unwissenden Blick bemerkt haben, denn sie musste seufzten.
"Also, mein Bruder James hat dich verzaubert, damit du einschläfst, und er dich ohne Probleme zu uns bringen kann. Und dieses Gift ist immer noch in deinem Körper drin. Es wird ein paar Stunden dauern, bis du dich wieder vollständig bewegen kannst."
Mir stockte der Atem. Jemand hat mich verzaubert? Verzaubert? Und was meinte Elizabeth mit: Das Gift ist noch in deinem Körper?
"Verzaubert?", sagte ich erschrocken, und Elizabeth schlug sich die Hand vor den Mund, und blickte zu ihrer Schwester, die sich an die Stirn fasste.
Bevor ich meine Unwissenheit weiter stillen konnte, kam eine dritte Person in den Raum.
"Schwestern, was macht ihr hier? Lasst sie schlafen!" Es war die selbe melodische Stimme, die ich in meinem Zimmer vernommen hatte.
Meine Erinnerungen kamen Stück für Stück zurück.
"Sie ist bereits wach!", sagte Elizabeth.
Dumpfe Schritte näherten sich dem Bett, und die Frau, die ich meinem Zimmer nur in einem düsterem Licht gesehen hatte, stand jetzt vor mir.
Sie hatte genau diesselbe Haarfarbe wie William, ein helles Braun.
"Ich bin Julia", sagte sie. "Und du bist -",
"Anne Davies."
Ich hörte jemanden, vermutlich Elizabeth, stöhnen. "Ich sagte dir doch, du bist keine -"
"Still, Schwester", zischte Julia. "Dies werden wir ihr ein andermal erklären."
Mein Atem beschleunigte sich noch mehr.
Irgendetwas stimmte hier überhaupt nicht!
"Und überhaupt, was machst du hier eigentlich, hat James dir nicht gesagt, dass du dich von unserem Gast fernhalten sollst? Wenn er deine Abwesenheit bemerkt, dann -" Weiter kam Julia nicht, denn plötzlich schallte ein dröhnendes Echo durchs ganze Haus.
"ELIZABETH", brüllte jemand. "Du missachtest meine Befehle, Schwester! Komm sofort zurück. Ignoriere mich nicht!"
Elizabeth schien unbeeindruckt, geradezu amüsiert.
"SONST WAS?", schrie sie zurück und breitete herausfordernd die Arme aus. "Was würdest du dann machen? Ich bin hier doch schon gefangen?" Elizabeth stapfte wütend aus dem Raum und ließ mich mit Julia und Amelia allein. 

Die Schwestern von Swanfield ManorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt