Jane's Worte

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Nachdem ich in den Salon trat, lief Elizabeth aufgeregt auf mich zu.
"Was hast du mit ihm gemacht?", flüsterte sie mir erregt ins Ohr. "Er sieht aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Nein warte ... in gleich fünf Zitronen!"
"Unwichtig", sagte ich nur, weil mich ihre Euphorie amüsierte.
Elizabeth zog einen Schmollmund, zuckte dann mit den Schultern und zog mich zur gedeckten Tafel, wo ein sehr missbilligend dreinblickender Jack saß und seinen Fisch brutal zerteilte, was mir ein leichtes Lächeln entlockte.

Als ich nach dem Essen die Tür zu meinem Zimmer öffnete, setzte mein Herz einen Schlag lang aus, und ich befürchtete schon, ohnmächtig zu werden.
Ein Fenster war weit aufgerissen, sodass der eiskalte Wind mir entgegenpeitschte. Aus einem Reflex heraus schloss ich die Augen, um sie gegen den Wind zu schützen.
Als ich sie wieder öffnen konnte, sah ich die Silhouette eines männliches Körper vor mir stehen lassen. Zumindest war ich mir sicher, dass es ein Mann sein musste, denn ich hatte bisher nie eine Frau mit solch einer Statur gesehen.
"Mr Walker?", fragte ich, weil es mir am plausibelsten erschien: Das Fenster stand offen und Mr Walker stand vor mir, als hätte er nie etwas anderes getan. Die Gleichgültigkeit, die in seinem Blick ruhte, verriet mir, dass er hier schon länger stand.
"Da sind Sie ja endlich, Lady Anne! Ich stehe hier schon geschlagene zwei Stunden!"
Die Tatsache, dass er in mein Zimmer eingebrochen war, ignorierte ich weitesgehend, denn mein Blick fiel auf ein beigefarbenen Umschlag in Mr Walkers Hand.
Er bemerkte es. "Ihre Schwester kann eine ganz schöne Furie werden!", sagte er schlotternd. "Sie hat ganz schön doof geschaut, als ich plötzlich vor der Tür stand und sagte, dass ich Sie kenne. Miss Brown wollte alles auf der Stelle wissen, hat mich wie eine Wahnsinnige angebrüllt, weil ich das Geheimnis, wo Sie sich befinden, nicht ausgeplaudert habe."
Sehnsüchtig dachte ich an Jane zurück, die ich schon Jahre, so kam es mir vor, nicht mehr gesehen hatte.
"Jedenfalls", schloss er, "das hat Ihre Schwester mir vor meinem Abflug in die Hand gedrückt."
Er reichte mir den Umschlag, den ich sofort aufriss.
"Na dann", sagte Mr Walker und verbeugte sich, "viel Spaß beim lesen."
Der Nebel wanderte um ihn, und er begann zu schrumpfen. So viel, bis eine kleine Krähe auf dem Boden stand. Sie sah mich kurz aus ihren schwarzen Augen an, bevor sie hinaus flog.
Ich schloss das Fenster, ging zum Kamin und schürte das Feuer, weil sich in dem Zimmer eine entsetzliche Kälte breitgemacht hatte.
Danach legte ich mich ins Bett und öffnete Jane's Brief.

Harvey Lane 23
Norwich, Norfolk
England

27. Dezember 1891

Oh Anne!
Wie froh ich bin, endlich ein Lebenszeichen von dir zu lesen! Du ahnst gar nicht, wie!
Als dieser besagte Francis Walker vor der Tür stand und sagte, dass er in deinem Name käme, war ich kurz davor, ihn ins Haus zu zerren, zu fesseln und ihn mit einem Messer zu bedrohen, denn er hat nichts über deinen Aufenthaltsort preisgegeben. Zum Glück war niemand zu Hause gewesen!
Aber stattdessen habe ich ihn nur angeschrien, sodass man es in ganz Norwich hätte hören können.
Dieses neugewonnene Glück, dass du mir beschert hast, lenkt mich von meinem Unglück ab.
Denn Henry Jones hat mir einen Brief geschrieben, nachdem ich ihm einen geschickt hatte, indem ich ihm die Situation erklärte. Und rate mal, was er getan hat!?
Er hat mich verlassen! Für so ein junges französisches Flittchen namens Marie Gauthier aus seiner Nachbarschaft in Carnaby!
Mutter hatte recht! Und das schlimmste ist, dass ich es ihr jetzt nicht mehr gestehen kann!
Ich glaube, dass mich Henry nur auf mein Geld abgesehen hat, und als ich aus London ging, hat er sich ein anderes reiches Mädchen geschnappt...
Ebenfalls schlimm: Ich war naiv! Naiv!
Vielleicht hätte ich auf Mutter hören sollen ...
Wie auch immer! Ich hoffe, es fehlt dir an nichts, denn dieser Kerl sagte mir ja kein Sterbenswörtchen.
Bis bald
Jane

Natürlich begann ich, sogleich eine Antwort zu schreiben, und ich nahm mir vor, sie noch heute Mr Walker zu geben.

04. Januar 1892

Das Neujahrsfest war rauschend, laut, und unendlich lang. So hatte es sich jedenfalls angefühlt.
Cousine Aileen entpuppte sich als eine gebildete, jedoch sehr sarkastische Person, mit der ich mich gern unterhielt. Sie lebte in der Nähe von Bath auf dem Land und kam nicht oft unter Menschen.
Aileen kam mir sehr verschlossen vor, was mich nicht wunderte. Sie fragte, warum ich denn so traurig aussehe.
Offenbar hatte sie meine schlechte Stimmung bemerkt.
Ich vermisste meine Schwester Jane und konnte an nichts anderes als an ihr Leid denken, welches sie gerade fühlte. Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen, fest an mich gedrückt und ihr liebevoll tröstende Worte ins Ohr geflüstert.
Aileen's Mutter, Tante Mildred, war das absolute Gegenteil ihrer Tochter. Während Aileen's Erscheinung zierlich und unauffällig war - jetzt wunderte es mich auch nicht mehr, warum Elizabeth sie so gern hatte -, war Tante Mildred klein und korpulent. Eine dicke Schicht weißer Schminke bedeckte ihr aufgequollenes Gesicht, womit sie mich mit der Schminke an bisschen an Königin Elizabeth I. erinnerte.
Das Kleid, was Mildred trug, war zum zerreißen gespannt. In einem Moment hatte ich gedacht, als sie in ein Stück Kuchen biss, die Bänder ihres Mieders müssten gleich reißen.
Sie war sarkastisch wie ihre Tochter, und um ein vielfaches lauter.
Jack widerrum war schweigsamer als ich gedacht hatte. Anstatt mit seinen übrigen Verwandten zu plaudern, hielt er sich still und verschlossen am Kamin auf und ließ den Blick nicht von den tanzenden Flammen ab.
Kurz begegnete er meinem Blick, und ich sah hektisch weg.
Jetzt muss er wohl denken, dass ich ihn beobachte!
Als ich einen zweiten Blick riskierte, sah ich, dass er sich durch das Gedränge zwängte und sich auf mich zu bewegte. In dem Moment hätte der Saal wohl nicht imposant und groß genug sein können!
Ich versuchte, mich unauffällig zur Tür zu bewegen, aber bei dieser Masse von Verwandten der Familie Swan gestaltete sich das als sehr schwierig.
"Lady Anne", sprach mich irgentwer an, den ich nicht kannte, und dessen Gesicht ich auch nicht sah, weil sich mein Kopf hektisch von Links nach Rechts drehte. "Geht es Ihnen nicht gut? Sie ..." den letzten Teil des Satzes verstand ich nicht, und ich antwortete auch nicht darauf.
Ich glaubte, einen Herzinfarkt zu bekommen, als jemandes Hand sich feste um mein Arm schloss.
Ich glaubte schon, aufschreien zu müssen, doch als ich in das gefasste und ruhige Gesicht von Elizabeth blickte, beruhigte sich mein Puls wieder.
Ich atmete erleichtert aus und Elizabeth zog mich aus dem Ballsaal auf die Flügeltür zu, hinaus auf den spärlich beleuchteten Korridor.
Ihre Schritte klangen dumpf von dem Teppichboden wider. Sie bewegte sich schnell.
Noch ehe ich nachfragen konnte, sagte sie: "Ich habe ihn beobachtet", sagte sie außer Atem. "Und als ich sah, dass er sich auf dich zuging, da konnte ich nichts anderes tun als dich zu retten!"
Elizabeth sprach diese Worte mit einer Härte aus, als ob sie mich von dem sicheren Tode bewahrt hätte. Vielleicht hatte sie es ja indirekt auch, auch wenn es nicht gleich der Tod war.
Dennoch rührte mich die Führsorglichkeit meiner Schwägerin.
Ich erwiderte nichts, doch ich war mir sicher, dass sie sie Dankbarkeit in meinem Gesicht ablesen konnte, denn sie setzte ein Lächeln auf, was Keine Ursache bedeutete.

Unsere Flucht führte uns in den Salon, in dem es mir sogleich wärmer ums Herz wurde. Der Weihnachtsbaum leuchtete immer noch, obwohl bis vor zwei Sekunden noch keiner in diesem Raum zugegen war.
Es schien, als sei er mit einem Bann belegt, der ihn ununterbrochen weiterleuchten ließ.
Elizabeth hatte meine Hand losgelassen und war auf den bestickten Wandteppich zugegangen.
Williams Profil sah mir entgegen, als ich nähertrat. Sein Gesicht war von feucht von Tränen, doch seine Lippen umspielte ein warmes Lächeln.
Ich merkte nicht, wie ich Williams Namen flüsterte, erst als Elizabeth zu mir sah, wurde es mir bewusst.
Sie lächelte mir liebevoll zu und legte mir eine Hand auf die Schulter.

Die Schwestern von Swanfield ManorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt