Der Junge aus der Mittelschicht

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16. November 1891

William kam erst, nachdem ich eingeschlafen bin. Denn als ich kurz aufwachte, lag mein Buch auf meinem Nachtschrank, das Kerzenlicht war gelöscht und er hatte mich zugedeckt.
Als ich mich auf die andere Seite drehte, lag er da, die Decke bis zu den Ohren hochgezogen.
Ich küsste ihn auf die Stirn, ehe ich mich selber wieder auf die Kissen legte.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, waren meine Glieder steifgefroren. Ich hatte am Abend vergessen, dass Fenster zu schließen. Nun erfüllte eine klirrende Kälte den Raum.
Ich stand auf und zog mir meinen Morgenmantel über. Draußen herrschte noch absolute Dunkelheit.
Als ich aus dem Fenster blickte, sah ich, dass es angefangen hat zu schneien. Ich liebte den Schnee.
Er war einfach nur wunderschön, wie er sanft vom Himmel schwebte und sich - genauso sanft - auf die weiße Landschaft legte.
Ich schloss das Fenster, ging zurück zum Bett und zog William die Decke über die Schultern, die er im Schlaf weggestrampelt hatte. Sein nackter Oberkörper hob und senkte sich bei jedem Atemzug.
Mutter stand am Fenster, als ich herunterkam, Vater saß am Tisch und las in der The Times.
"Guten Morgen, Anne." Vater sah kurz von seiner Zeitung auf, um mich zu grüßen, Mutter starrte immer noch durch Fenster.
"Ich hasse diese Pampe", brummte sie.
"Was denn, Mutter?", fragte ich, als ich zu ihr trat.
"Den Schnee natürlich. Ich hasse ihn. Die Königin ist auch immer aufgeregt, wenn er fällt!" Sie schlang sich ihren Mantel fester um den Körper. "Herrgott, ist das kalt."
Vater sah von der Times auf, und blickte Mutter mit gespielter Strenge in die Augen.
"Elizabeth, mach dich nicht lächerlich. Wenn es schneit, sieht London direkt wieder schön aus."
Meine Mutter schnaubte. "London sieht auch so wunderschön aus. Jedenfalls hier in Westminster." Mutter atmete einmal zufrieden ein und aus.
"Anne, Schatz", sagte sie zu mir. "Sei so lieb, und bringe deinen Großeltern ihr Frühstück hoch." Sie drückte mir und Vater einen Kuss auf die Wange und schlang sich den Schal um den Hals. "Ich muss los, die Droschke bringt mich heute früher in den Palast." Sie war schon fast aus der Tür, da wurde ich Blick plötzlich strenger. "Und sagt Jane, sie soll sich vom Marktplatz, und somit auch von Jones fernhalten!"
Mit den Worten fiel die Haustür ins Schloss und wenig später hörte ich die Hufe der Pferde davontrappeln.
"Bring deinen Großeltern ihr Essen hoch, Annie. Aber sei vorsichtig, dass du nicht stürzt!", ermahnte mich Vater und warf einen Blick auf meinen gewölbten Leib.
Ich nickte nur, griff das Silbertablett und stieg die Stufen zum Zimmer meiner Großeltern hinauf.
Ich klopfte, vernahm ein leises "Herein" und öffnete mit meinem Ellbogen die Tür.
Großvater Lawrence saß mit einem Buch auf einem Schemel, und bemerkte sicher gar nicht, dass ich da war. Großmutter Victoria saß in einem Schaukelstuhl, den Blick aus dem Fenster und auf die verschneiten Straßen von London gerichtet.
Im Kamin prasselte ein Feuer und erfüllte den Raum mit einer angenehmen Wärme.
"Guten Morgen, Großmutter Victoria", grüßte ich sie und stellte das Tablett auf einem Beistelltischchen ab.
"Guten Morgen, Liebling", grüßte sie mich zurück, ohne den Blick vom Fenster zu wenden.
"Möchtest du eine Tasse Tee?", fragte ich sie und goss die dampfende Flüssigkeit in die Tasse und reichte sie ihr. Sie trank einen Schluck und reichte sie mir zurück.
"Großvater Lawrence." Ich rüttelte ein bisschen an seiner Schulter, damit er von seinem Buch aufblickte.
"Oh! Guten Morgen, Anne." Großvater Lawrence strahlte mich an. "Anne, dieser Shakespeare ist wirklich umwerfend. Du hattest recht, dass er mir gefallen wird!", sagte er vergnügt und drückte mir Ein Sommernachtstraum in die Hand.
"Es war herrlich!", bestätigte er mir. "Das antike Griechenland, ein verzauberter Wald ... wann fahren nach Griechenland, Anne?", wollte er wissen. Doch ich wusste, dass er das nur ironisch meinte.
Er war ein lebensfreudiger Mann, der dem Alter trotzte. Meine Liebe zum Lesen und zum Träumen hatte ich defenitiv von ihm!
Großmutter Victoria dagegen war eine verschlossene, aber dennoch liebenswerte Person. Sie kam nur selten aus sich heraus.
"Er tut nichts anderes mehr", sagte sie, und blickte uns endlich an. "Stundenlang sitzt er auf dem Schemel und liest, lacht ab und zu."
Mit dem Buch an meinen gewölbten Bauch gepresst, ging ich auf meine Großmutter zu, die wieder aus dem Fenster schaute.
"Ich glaube, Ein Sommernachtstraum würde auch dir gefallen, Großmutter Victoria.
Es wird dir gut tun, dich mal in fremde Welten zu träumen!", meinte ich, und hielt ihr das Buch hin. Doch sie ignorierte meine Geste, nahm sich noch eine Tasse Tee und trank sie ganz aus.
"Ich wünsche einen guten Appetit", sagte ich zu Großmutter Victoria. Ich drehte mich um und wollte aus dem Raum gehen, doch vorher legte ich das Buch auf Großmutters Nachtschränkchen. "Ich bringe dir später ein neues Buch", sagte ich zu Großvater Lawrence und er lächelte mir zu, während er das Brot biss, welches ich mitgebracht hatte.

Die Schwestern von Swanfield ManorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt