Ein neues Leben

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1. März 1892

Meine Tochter wurde auf den Namen Mary Elizabeth Jane Swan getauft.
Mary nach meiner verstorbenen Schwägerin und Williams Lieblingsschwester.
Elizabeth nach meiner lieben Mutter, die gewiss eine wunderbare Großmutter gewesen wäre.
Jane nach meiner wunderbaren Schwester, die ich mehr als alles andere wünschte zu sehen.
Die Taufe fand in der kleinen Kapelle neben den Stallungen statt, die von Pastor Johnson vollzogen wurde.
Julia weinte unerbittlich. Amelia sah lächelnd auf ihr Patenkind hinab.
James war nicht gekommen, wahrscheinlich weil er keinen Neffen bekommen hatte.
Ich sah auf Mary hinab, und empfand nichts als Liebe, die über meine geahnten Grenzen weit hinausging. Ich drückte ihr einen zarten Kuss auf die Weiche Stirn. Ihre rosigen Lippen waren leicht geöffnet, während sie ihre Taufe verschlief.
Mrs Thompson hatte mir bei der Geburt geholfen, hatte mir gesagt, was ich zu tun hatte.
Ich war komplett überfordert, die Schmerzen und die Angst verfestigten sich in meinen Gliedern, sodass ich um jeden Gedanken beraubt wurde.
Ich schlang die Decke enger um die kleine Mary, und küsste sie noch einmal.

Am Abend kam James in mein Zimmer. Ich hatte ihn lange nicht gesehen. Seit nunmehr fünf Tagen!
Wahrscheinlich hat er sich in seinem Zimmer verschachert und betete, dass ich einen Sohn haben werde.
"Was tust du da?", fragte er entgeistert. Ich blickte auf Mary hinab, die ihre Augen einen Spalt breit geöffnet hatte.
"Findest du ich sollte ihr nicht die Brust geben?", fragte ich ironisch, doch offenbar wusste er darauf eine Antwort.
"Nein", sagte er nüchtern. "Ladys tun so etwas nicht. Schon gar nicht für eine Tochter!"
Ich versuchte, meine Atmung unter Kontrolle zu halten.
"Ich bedaure, dass du nun eine Nichte hast und keinen Neffen. Aber vielleicht könnte ..."
"... das Mädchen meine Erbin sein?", führte er meine Frage zu Ende. "Nein, ausgeschlossen. Es muss ein Junge sein."
Wut brodelte in meiner Brust, die Mary mit jedem saugen minderte, doch ich versuchte, eine feste Stimme zu haben.
"Wenn du unbedingt einen Erben brauchst, dann such dir gefälligst eine Frau! Mit der kannst du nämlich jede Menge Söhne bekommen. Aber ich habe Mary, meine und somit auch Williams Tochter, und ich weiß, dass er seine Tochter von Herzen geliebt hätte, wenn er noch am Leben wäre."
James schien über meine Zurechtweisung unbeeindruckt.
"Bist du sicher?", fragte er. "Bist du sicher, das William dein Kind geliebt hätte?"
Ein Schock durchzuckte meine Glieder wie ein Blitz, der in eine Fichte einschlug.
"Was hast du gesagt?"
"Anne", sagte er vorsichtig, aber nicht minder scharf. "William hätte eine Tochter niemals als einen Erben und somit auch nicht als sein Kind anerkannt."
Ich konnte nicht fassen, was ich da hörte! James war soeben Onkel eines wunderbaren Mädchens geworden, die durchaus das Erbe des Anwesens antreten könnte. Doch anstatt sich über das neue Leben zu freuen, starrte er Mary an, als wäre sie eine Schlange, die ihre Giftzähne tief und fest in sein Stolz bohrte.
"Wie kannst du es wagen, so etwas zu sagen?", fragte ich ungläubig.
"Sei eine Realisten, Anne", sagte er, als ob ich verrückt wäre. "Ein Mädchen kann kein Erbe von ..."
"Mich interessiert dein Erbe nicht!", fauchte ich. "Hol dir eine Mätresse oder sonst was! In London gibt es genug davon! Schau dich um, heirate die nächstbeste, die dir einen Jungen schenkt. Aber bitte, mache Mary nicht dafür verantwortlich, dass sie nicht der Neffe ist, den du haben willst!"
Ich bemühte mich, nicht zu laut zu werden.
Doch anscheinend war ich zu James durchgedrungen. Er gab kein Laut von sich. Jetzt stand er da, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, den Blick nichtssagenden, aber immer noch feindselig auf den Boden gerichtet.
"Hinaus!", zischte ich.
Ohne zu zögern machte er auf dem Absatz kehrt und verließ mein Zimmer.
Mary hatte aufgehört zu trinken, jetzt schlummerte sie friedlich in meinen Armen.
"Schlaf gut, mein Herz."

29. März 1892

"Ich möchte, dass Sie einen Brief wegbringen", sagte ich zu Mr Walker, der sich lässig an die Wand lehnte. Ich blickte aus dem Fenster auf den schneebedeckten Wald, der komischerweise zu dieser Jahreszeit immernoch von der weißen Pracht eingehüllt wurde.
"An Ihre Schwester, nehme ich an?"
Ich nickte. "Ich möchte sie hierher einladen ..."
"Madame, mit Verlaub, aber das geht nicht", sagte Mr Walker entrüstet. "Das würde Master Swan nicht erlauben!"
Ich schnaubte. "So wie ich von seinen Schwestern hörte, wird Mr Swan die zweite Woche im April außerhalb von Devonshire geschäftlich unterwegs sein. Für welche Geschäfte auch immer, dies interessiert mich herzlich wenig. Was mich aber durchaus interessiert, ist, dass er fort sein wird, und nicht merken wird, was auf Swanfield Manor passiert."
Mr Walker blähte die Wangen auf.
"Nun gut, ich überbringe den Brief an Miss Brown, aber das besagte Miss Brown hier hin kommt, halte ich für eine absolute, grundlegend falsche, missratene Idee!" Er machte eine Pause. "Selbst wenn Master Swan nicht anwesend ist, hat er seine Augen und Ohren überall, das kann ich Ihnen versichern!"
Er musste wohl glauben, dass ich mich geschlagen geben würde, doch ich wusste es besser.
"Merkt er es wirklich?", fragte ich herausfordernd. Seine Wangen waren gerötet, er sagte kein Wort mehr.
"Dann sind wir uns ja einig!", schloss ich.
Ich wollte ihn schon wieder hinausschicken, da gab er sich geschlagen. "Nun gut, ich werde Miss Brown Eure Einladung überreichen. Doch nur unter einer Bedingung..."
"Und die wäre?"
"Falls Master Swan etwas davon erfahren sollte, dann bitte erwähnt meine Anteilnahme nicht."
Er presste die Kiefer aufeinander und ballte die Hände zu Fäusten. Offenbar standen die Angestellten von James ziemlich unter seiner Fuchtel, Mr Walker sah geradezu so aus, als fürchtete er sich vor der Reaktion seines Herrn.
"So sei es!", sagte ich, nun etwas sanfter, um ihm die Angst zu rauben.
Ohne ein weiteres Wort verwandelte sich Francis in die kleine schwarze Krähe, ich öffnete ihm das Fenster, band ihm meinen Brief an Jane an dem kleinen Beinchen fest, und sah ihm noch solange nach, bis der kleine schwarze Körper am Horizont verblasste.

Norwich, Norfolk
England

Jane Brown

31. März 1892

Es hämmerte immerzu gegen die Tür. Laut und dröhnend.
Mir war eingefallen, dass sich Großvater Lawrence schlafen gelegt hatte, und Onkel Edward und Tante Emma waren zu einem Spaziergang aufgebrochen. Großvater sollte auf keinen Fall wach werden, weswegen ich aus der kleinen Küche, in der ich gerade das Abendessen zubereitete, zur Tür hastete und sie aufriss.
"Jane Brown?", fragte der großgewachsene Mann, der mir entgegenblickte.
"Wer will das wissen?", gab ich zurück.
Alle Freundlichkeiten fielen in diesem Moment von ihm ab, er rollte mit den Augen, ließ seine Schultern fallen. "Wir sind uns bereits begegnet, mein Name ist Francis Walker..."
Ich ließ ihn nicht zuende sprechen, packte ihn stattdessen am Ärmel und zerrte ihn ins Haus hinein.
"Sie hätten sich ruhig irgendwie ankündigen können!", zischte ich, um Großvater nicht zu wecken. Wenn er nach unten käme und seine Enkeltochter zusammen mit diesem Fremden zu sehen, würde ihm nicht guttun. Seid dem Tod meiner Familie ist er Fremden noch skeptischer als ohnehin schon.
"Wie denn?", fragte er leise, weil ich mein Zeigefinger vor die Lippen presste. "ich wohne auf der anderen Seite von England!"
Ich zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung, irgendwie. Nun denn, wie kann ich Ihnen behilflich sein?"
Er zog ein kleines Stück - Pergament? - aus seiner Manteltasche und hielt es mir verschwörerisch hin.
Als ich es nicht sofort ergriff, sagte er: "Es stammt von Eurer Schwester."
Jetzt riss ich es ihm aus der Hand und öffnete den Umschlag. "Geht es ihr gut?", fragte ich mit zittriger Stimme.
"Es geht ihr prächtig, und ihrem Kind auch. Sie wünscht, Euch zu sehen."
Ich löste meine Augen von dem Brief. "Was? Ist das denn möglich, sie zu sehen?"
"Das ist es in der Tat", sagte Mr Walker. "obwohl ich eigentlich nach wie vor dagegen bin."
Ich hörte ihm aber gar nicht mehr zu. Den Brief an mich drückend, sank ich in die Knie. "Oh, Anne!", flüsterte ich wie im Delirium, weil die Aussicht, Anne wiederzusehen, mir Tränen in die Augen trieb und meine Glieder schwer werden ließ. Für einen kurzen Augenblick fürchtete ich, krank zu sein.
"Es ist möglich", wiederholte Mr Walker, "aber leider noch nicht jetzt."
Ich kämpfte mich wieder auf die Füße. "Wieso nicht?" Alle Vorfreude, Anne zu sehen, verflogen so schnell wieder, wie sie gekommen waren.
"Leider ist mein Meister, bei dem Ihre Schwester untergebracht ist, erst im April geschäftlich in Toulouse unterwegs. Ich werde Sie am fünfzehnten April wieder besuchen, und sie dann mit nach Devon nehmen."
Kaum hatte er das gesagt, stürmte er zur Tür hinaus. Ich hastete ihm nach, hatte noch so viele Fragen, warum ich Anne erst dann sehen könne. Doch als ich auf die Straße blickte, war der Mann, der noch vor wenigen Sekunden in dem Haus meines Onkels gestanden hatte, wie vom Erdboden verschluckt.

Ende von Teil I

Die Schwestern von Swanfield ManorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt