4. Das stumme Mädchen

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In diesem Moment fühlte sich alles richtig an. Auch wenn ich tief in mir alles bereute, dachte ich, in diesem Moment, meinem Vater genau das Richtige an den Kopf geworfen zu haben.

Dennoch machte sich die Reue in meinem Körper erkenntlich und sorgte für ein Chaos in meinem Kopf. Stolz, Reue und Joliens Zeichnung, die ich doch eigentlich verdrängen wollte, vermischten sich in meinem Kopf und ließen mich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Das war wahrscheinlich auch der Grund, weshalb ich etwas tat, dass ich normalerweise nicht getan hätte.

Erschöpft ließ ich mich auf mein dunkelbraunes hölzernes Einzelbett mit der blau karierten Bettwäsche fallen und griff instinktiv nach meinem Handy in der rechten Hosentasche.

Ohne nachzudenken, schaltete ich es an und öffnete Instagram. Ich wusste nicht, was ich tat, als ich die Suchleiste ansteuerte und JxGarcia eingab. Sofort erschien Joliens Profil vor meinen Augen. Das war der Moment, in dem ich zur Besinnung kam und verzweifelt mein Handy aufs Bett fallen ließ. Ich wusste nicht, was mit mir los war und warum ich mich so plötzlich für das einsame Mädchen interessierte. Mit einem verzweifelten Stöhnen vergrub ich mein Gesicht in meine Hände.

Das Vibrieren meines Handys ließ mich irritiert aufsehen. Eine Nachricht von Nate leuchtete mir am Sperrbildschirm entgegen und interessiert öffnete ich sie.

Und, wie sieht es mit morgen aus?

Keine Sorge, ich komme

Cool

Ich wollte mein Handy gerade ausschalten, als mir das noch nicht geschlossene Instagram entgegensprang.

Kurz biss ich meine Zähne zusammen und öffnete Joliens Profil. Ihr Profilbild war ebenso wie auf ihren Zeichnungen eine verwelkte Rose, nur dass diese nicht gezeichnet, sondern echt war.

Insgesamt vierunddreißig Beiträge trug ihr Profil und alle samt waren Zeichnungen. Entschlossen klickte ich auf die Erste und sofort erschien das zusammengekauerte Mädchen vor meinen Augen. Interessiert scrollte ich nach unten und sah diesmal ein Mädchen mit Glasscherben in der Hand. Über ihrer Schulter befand sich wieder eines dieser Gesichter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Irritiert musste ich feststellen, dass die verwelkte Rose wieder einmal ihre Initialen zierte.

Beim nächsten Bild fiel ein Mädchen in ein scheinbar unendliches tiefes schwarzes Loch und wurde von den Gesichtern immer tiefer gezogen und in der Ecke des Bildes befand sich wieder eben diese Rose. Auf dem letzten Bild sah man erneut das Mädchen, dem diesmal eine Träne über die rechte Wange lief. Hinter ihr stand wieder einmal eines der Gesichter und hielt ihr mit seiner Hand den Mund zu. Diesmal sah man jedoch nicht nur die Initialen mit der Rose, diesmal trug das Bild eine Unterschrift: Don't talk.

Rede nicht. Warum sollte sie nicht reden? Was sollte sie nicht sagen? Verzweifelt ließ ich mein Handy sinken und zerbrach mir förmlich den Kopf beim Analysieren von Joliens Zeichnungen. Dieses Mädchen hatte es, ich wusste nicht wie, geschafft, für einen gewissen Zeitraum all meine sonstigen Gedanken über mein Leben verstummen zu lassen und durch ihre ersetzt.

Ich wusste nicht, was dies zu bedeuten hatte, doch ich war mir sicher, dass ich dies nicht länger wollte. Ich wollte raus hier und klar denken können und so griff ich nach meiner schwarzen Sweatshirtjacke und zog sie mir samt Kapuze über. Meine Jeans tauschte ich noch schnell gegen eine gemütliche schwarze Jogginghose und verließ daraufhin entschlossen mein Zimmer.

Mein Vater saß nachdenklich auf unserem kleinen gelben Sofa mitten im Raum und stützte seinen Kopf auf seinem rechten Arm ab. Im schnellen Schritt durchquerte ich den kleinen rustikalen Raum und wand meinen Blick von ihm ab. Stattdessen sah ich zu den Familienfotos an der weißen Wand und den Stellen, an denen nur noch die Nägel hingen.

"Wo willst du hin?", fragte mein Vater erschrocken, da er mich erst in diesem Moment bemerkt hatte.

"Ich gehe joggen", antwortete ich kurz und verschwand im nächsten Moment auch schon durch die Haustür, um ihn meinen Zorn spüren zu lassen.

Ich atmete einmal tief durch und dehnte mich, um möglichst schnell so viel Abstand wie möglich zwischen mir und diesem Haus erzeugen zu können.

Da es um diese Uhrzeit noch warm in Harvestfall war, öffnete ich den Reißverschluss meiner Jacke und ließ so Sicht auf mein weißes T-Shirt zu. Schnell schloss ich noch meine Kopfhörer am Handy an und startete die Musik. In gemütlichem Tempo lief ich los und versuchte zum ersten Mal seit Stunden an nichts zu denken. Ich versuchte, alles hinter mir zu lassen und mich nur auf Musik und Laufen zu fokussieren.

Entspannt lief ich im Schatten der riesigen Bäume am Straßenrand, um mich nicht unnötig der Sonne auszusetzen. Mir wurde abgesehen von der strahlenden Sonne wieder ein Grund bewusst, warum ich es vorzog, am Abend joggen zu gehen und nicht so wie jetzt am späten Nachmittag, denn um diese Uhrzeit befand sich der Großteil von Harvestfall bereits Zuhause und genoss die letzte Sonne des Tages im Garten. Somit konnte ich nicht einfach für mich laufen, sondern musste immer wieder meine Geschwindigkeit beschleunigen, wenn ich an einem solchen Haus vorbeikam, damit ich nicht in ein endloses Gespräch verwickelt werden würde.

Es verging eine halbe Stunde, bis ich schließlich verschwitzt vor unserem kleinen Imbiss anhielt. Erschöpft kramte ich mein Portemonnaie aus meiner Hose und kaufte mir eine Wasserflasche und einen Hamburger. Da der Imbiss auf einem großen Parkplatz stand und keine Sitzmöglichkeiten in der Nähe waren, setzte ich mich wie immer mit dem Rücken zum Imbiss auf einen Bordstein und beobachtete den Verkehr der Innenstadt.

Vorsichtig zog ich mir die Kapuze vom Kopf und fuhr mir mit der Hand durch die verschwitzten Haare. Normalerweise wäre ich nach einer halben Stunde noch nicht erschöpft gewesen, doch unter der strahlenden Sonne kam man schneller ins Schwitzen. Erleichtert öffnete ich meine Wasserflasche und trank sofort die Hälfte leer. Ich wollte gerade gemütlich in meinen Hamburger beißen, als ich meinen Blick über die Innenstadt schweifen ließ und am Gebäude unseres Nachrichtensenders hängen blieb.

Eine noch junge Frau mit einem goldblond gefärbten Zopf und strahlend rotem Lipgloss stand mit einem großen Pappkarton vor dem Eingang des Gebäudes und diskutierte angeregt mit einem großen gebräunten Mann mit breiten Schultern. Er trug eine schwarze Sonnenbrille, die ihn in Kombination mit seinem schwarzen Bart und den muskulösen verschränkten Armen gefährlich wirken ließen. Seine ebenso schwarzen Haare trug er zurückgegelt. An seinem schwarzen Anzug mit einem offensichtlichen Ausweis an der linken Brusttasche konnte ich erahnen, dass er zur Security gehörte.

Im Gegensatz zu ihm schien die Frau klein und da halfen nicht einmal ihre roten High Heels. Durch den schwarzen knielangen engen Rock mit den weißen Punkten wurde ihre kurvige Figur betont. Über ihrer weißen Bluse trug sie wie so oft ein schwarzes Jackett. Ohne ihr Gesicht zu sehen, wusste ich sofort, wer diese Frau war.

Nathalie Moore, die Lachnummer der Stadt. Niemand hatte sich so oft vor der laufenden Kamera blamiert, wie unsere örtliche Reporterin, Nathalie.

Wild gestikulierte sie mit dem gefüllten Karton in der Hand, während sie scheinbar versuchte, dem Mann etwas zu erklären, doch dieser ignorierte jedes ihrer Worte, bis sie schließlich zornig aufgab und in ihren hochhackigen Schuhen davon stolzierte. Am Klang ihrer Schuhe war deutlich ihre Wut heraus zu hören. Wütend überquerte sie die Straße und lief an mir vorbei zu ihrem Auto. Für diese paar Sekunden, an denen sie sich neben mir befand, schien der übliche verdreckte Parkplatzgeruch zu verschwinden und durch blumiges Parfüm ersetzt zu sein. Mit einem lauten Knall ließ sie die Autotür hinter sich zufallen und fuhr vom Parkplatz. 

Die Stadt, in der es mich nicht gibtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt