11. Das Versprechen

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Ich wusste nicht, was gerade in mir vor sich ging, denn als ich das Feld verließ, fühlte ich nichts. Es war, als wäre nun ich von einer großen Seifenblase umhüllt. Es fühlte sich nicht so an, als hätte ich gerade meinen besten Freund verloren.

Viel mehr war es mir vielleicht sogar ein wenig gleichgültig, dass ich nun allein durch den Wald irrte. Immer wieder durchforstete ich gemeinsame Erinnerungen, um ein Anzeichen für Renés plötzlich kaltes Verhalten zu finden, doch um ehrlich zu sein, war ich mir nicht einmal sicher, nach was ich suchte, denn soweit ich mich erinnern konnte, war René schon immer ein emotionsloser Mensch gewesen. Zumindest verhielt er sich in meiner Anwesenheit immer so.

Frustriert über diese Gedanken schoss ich einen Stein vor meinen Füßen gegen den nächst gelegenen Baum. Ich überlegte, ob dieses Verhalten sich vielleicht auch darin bemerkbar machte, dass René mich kein einziges Mal besucht hatte.

Je mehr ich über René nachdachte, desto mehr spürte ich eine Leere, die ihn permanent umgab. In vielen meiner Erinnerungen schien er nicht richtig anwesend zu sein und manchmal, da verschwamm er zusammen mit dem Hintergrund.

Vielleicht lag es nur an der derzeitigen Situation, aber Nate hatte ich in jeder meiner Erinnerungen scharf vor Augen gehabt.

Mit dem üblichen schelmischen Grinsen oder einem breiten Lächeln sah ich Nate vor mir, während René im Hintergrund verblasste. Irritiert darüber, dass mich Nate in jeder Erinnerung anlächelte, überlegte ich weiter, denn ich hatte ihn nie als traurigen oder kalten Menschen vor Augen. Bis auf das eine Mal.

Ein Tag, an dem ich ihm ein Versprechen gab. Das Versprechen immer für ihn da zu sein.

Ich sah Nate mit leicht roten Augen auf seinem Bett sitzend. Er hatte sich an der Wand rechts neben seinem Bett angelehnt. In dieser Erinnerung fühlte ich mich, als würde ich sie gerade das erste Mal erleben.

Es war, als stünde ich in diesem Moment in seinem dunkelgrau gestrichenen Zimmer. Sein mit gelbkarierter Bettwäsche bezogenes weißes Einzelbett stand entlang der rechten Wand, während das gleiche Bett noch einmal an der linken Wand stand. Dieses Bett gehörte Dane, Nates älterem Bruder. So wie er und Dane, teilten sich auch Flynn und Elijah, der zweit- und drittälteste Bruder, ein Zimmer. Tyson, der Älteste von ihnen, hatte sein eigenes Zimmer.

Zwischen Nates und Danes Betten stand ein schmaler weißer Schreibtisch vor dem schmalen Fenster. Diesen Schreibtisch hatten die beiden jedoch bisher schon ziemlich zugemüllt, denn während es sich auf der linken Seite zahlreiche Schokoriegelpackungen, die Dane vor seinem Aufbruch zum College liegen gelassen hatte, breit machten, lagen auf der rechten Seite allerlei zerknüllte Schulaufgaben von Nate.

Teilweise hatte es den Anschein, als wäre das Zimmer in zwei Hälften unterteilt, denn während auf Danes Seite überall eingerahmte Sternenbildaufnahmen hingen, hatte Nate seine Seite mit endlosen schief hängenden rot-blauen Postern der New York Giants beschmückt.

Vorsichtig näherte ich mich Nate, der noch immer mit roten Augen verträumt auf sein Handy starrte. Entschlossen setzte ich mich neben ihn und blickte unauffällig auf sein Handy, als ich mich ihm zudrehte.

Auf seinem Handy war ein Foto eines Mädchens, um das er im Bild den Arm legte. Ein Mädchen mit schulterlangem braunem Haar und rehbraunen Augen lächelte verlegen in die Kamera. Dieses Foto hatten sie selbst aufgenommen, als sie bei ihr im Garten standen. Eine lange silberne Kette baumelte ihr an der Brust ihrer weißen lockeren Bluse herunter.

Ich erkannte sofort das Mädchen in dem Bild, Isabell Anderson, das Mädchen, in das Nate seit Jahren verliebt war. Jahrelang hatte er sich nicht getraut, seine Gefühle seiner ersten großen Liebe zu gestehen, bis schließlich ihr Vater verstarb und sie mit ihrer Mutter nach Kalifornien zog, doch Nate weinte nicht deswegen. Er weinte, weil sie ihm beim Telefonieren gestern fröhlich von ihrem neuen Freund erzählt hatte.

Die Stadt, in der es mich nicht gibtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt