9. Die letzten Worte

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Exakt fünf Mal beobachtete ich die ankommenden Krankenwagen, während ich aus dem Fenster sah, bis sich die Tür wieder öffnete. Und dies war einer dieser Momente, in denen man sich wünschte, weiter in der Einsamkeit zu leben. In meinem Magen drehte sich alles um.

Selbst nach all den Jahren erkannte ich sie wieder. Schulterlange blonde Haare, sodass man ihre silbernen Kreolen sehen konnte, zeichneten sie schon immer aus. Ihr Gesicht wurde von kleinen Lachfalten geziert.

Strahlend grüne Augen boten einen Kontrast zu ihrer blau karierten Bluse. Wie immer trug sie ihre dunkelbraunen Westernstiefel kombiniert mit einer Jeans. Ein großer stämmiger Mann legte einen Arm um sie.

Dunkelbraune Augen versteckten sich bei ihm hinter einem langen grauen Bart, der dieselbe Farbe, wie seine zu einem Zopf gebundenen langen Haare besaß. Wie seine Frau trug er Stiefel, nur dass es bei ihm schwarze Lederstiefel kombiniert mit einer blauen Jeans waren. An den Ärmeln seines rot karierten Hemdes, konnte man seine breiten Arme erkennen, doch dieses Hemd spannte nicht nur wegen seiner Arme, sondern auch wegen seines Bierbauches.

Diese zwei Menschen waren die von mir meist gehassten. Viel lieber hätte ich mit Lydia einen Abend verbracht als mit diesen beiden auch nur eine Minute, denn diese beiden waren Raquel und Matthew Clark, meine Mutter und ihr neuer Ehemann.

Ich wollte sie nicht weiter ansehen, aber da sie die Tür wieder hinter sich geschlossen hatten, konnte ich ihnen nicht aus dem Weg gehen.

Desinteressiert blickte Matthew aus dem Fenster. Mir war bewusst, dass wenn es nach ihm gegangen wäre, er es sich mit seinen 3-jährigen Zwillingen weiterhin gemütlich auf seiner Ranch gemacht hätte, doch jetzt musste er hier sein.

Vorsichtig entriss sich meine Mutter dem Griff ihres Mannes und trat näher an mein Bett. Ihren Blick wusste ich jedoch nicht zu deuten, dies war aber auch verständlich, wenn man bedenkt, dass das letzte Treffen nun schon zehn Jahre her war.

Ohne Tränen in den Augen stand sie auf ihrer Unterlippe kauend vor meinem Bett. Soweit ich mich erinnerte, tat sie das immer, wenn sie nicht wusste, was sie sagen sollte.

Ich hasste sie zwar und dennoch konnte ich meinen Blick nicht von ihr abwenden. Wie gefesselt studierte ich jede ihrer Bewegungen, bis sie aufhörte auf ihrer Lippe zu kauen und ihren Mund öffnete.

Gespannt wartete ich ihre Worte ab, doch bevor auch nur ein Wort ihre Lippen verlassen konnte, ging die Tür ein zweites Mal auf. Irritiert drehte meine Mutter sich um und entdeckte meinen Vater, der die beiden perplex musterte.

"Seit wann seid ihr denn da? Ich hatte viel später mit euch gerechnet", stotterte mein Vater irritiert vor sich her.

"Wir haben direkt den ersten Flug hierher genommen", erklärte sie, "Wartest du auf jemanden oder warum hast du zwei Kaffee geholt?"

Beschämt sah mein Vater zu Boden, während Matthew finster jede seiner Bewegungen beobachtete.

"Ich bin es gewöhnt immer zwei Kaffee zu machen und wie ich dann fertig war, habe ich realisiert, dass er doch so keinen Kaffee trinken kann", erläuterte er wehmütig und versuchte ihr dabei nicht in die Augen zu schauen.

Ich wusste, dass ich wütend war, dass er sie eingeladen hatte, doch in diesem Moment wurde mir bewusst, dass das alles für ihn schwieriger, als für mich war, denn er musste der Frau, die ihn verlassen hatte, die Situation erklären.

Weiterhin ohne ihr in die Augen zu sehen, stellte er den zweiten Kaffee auf das Schränkchen neben meinem Bett. Kurz hielt er inne, dann gab er mir einen Kuss auf die Stirn und ging zurück zur Tür, um den Raum zu verlassen.

"Jon, wo willst du hin?", fragte ihn meine Mutter, als er die Türklinke ergriff.

Das Grinsen in Matthews Gesicht, das durch das Verschwinden meines Vaters hervorgerufen wurde, verschwand augenblicklich.

"Du brauchst etwas Zeit allein mit deinem Sohn. Das schuldest du ihm nach all den Jahren", antwortete er ernst und sah ihr dabei eindringlich in die Augen. Anschließend verließ er ohne ein weiteres Wort den Raum.

Meine Mutter starrte noch immer zu der geschlossenen Tür, vor der eben noch mein Vater gestanden hatte.

"Wie lange wollen wir eigentlich hierbleiben, Schatz?", fragte Matthew seine Frau ernst, "Du willst doch nicht ewig bei diesem Jungen bleiben. Er ist ein genauso großer Versager, wie sein Vater, das weißt du doch. Der Apfel fällt nie weit vom Stamm."

In diesem Moment riss mein Geduldsfaden. Meinetwegen konnte er mich einen Versager nennen, aber nicht meinen Vater, der mich allein großziehen musste, nachdem er ihm meine Mutter ausgespannt hatte.

Wutentbrannt marschierte ich auf ihn zu und holte aus. Im nächsten Moment stieß ich ihm meine Faust in die Magengrube, doch er bekam davon nichts mit.

Das einzige, dass in diesem Moment passierte, war, dass sich der Puls auf dem Monitor meinem anpasste, sodass er hohe Töne von sich gab.

Kurz darauf erschienen mehrere Ärzte im Zimmer, die meinen Körper hektisch aus dem Zimmer brachten. Geschockt lief meine Mutter meinem Körper nach. Mein Vater, der im Flur vor der Tür saß, schloss sich uns ebenfalls an. Nur Matthew blieb verdattert im Zimmer stehen.

"Was ist passiert?", fragte mein Vater meine Mutter, während sie versuchten, mit den Ärzten Schritt zu halten.

"Ich weiß es nicht. Matthew und ich hatten eine Meinungsverschiedenheit und plötzlich piepsten die Geräte", gestand meine Mutter verzweifelt.

"Sie müssen hierbleiben", befahl einer der Ärzte meinen Eltern, als wir wieder vor dem Raum mit den großen Türen ankamen.

Diesmal folgte ich meinem Körper jedoch nicht in den Raum. Die Angst, die mich durchfloss, war größer als die Neugierde zu wissen, was dort passierte.

So blieb ich draußen mit meinen Eltern die Doppeltür anstarrend im Flur stehen. Diesmal befürchtete ich schon, dass dies das Ende sein würde, dass mein Körper diesmal nicht mehr lebend aus dem Raum kommen würde.

"Ich bin eine schlechte Mutter. Erst verlasse ich meinen 7-jährigen Sohn ohne Vorwarnung, dann vernachlässige ich ihn und zuletzt könnte ich mit der Grund für seinen Tod sein", sprach meine Mutter weinend.

Vorsichtig umarmte mein Vater sie und meinte: "Du bist nicht schuld an all dem. Wer sagt, dass das alles nicht passiert wäre, wenn du nie gegangen wärst. Du wolltest leben und das war mit uns nicht möglich, also mach dir keine Vorwürfe."

Meine Mutter antwortete ihm nicht mehr, stattdessen ließ sie die Umarmung inniger werden.

Ich hatte währenddessen noch immer die Angst jeden Moment einfach zu verschwinden.

Deshalb ging ich auf die beiden zu, umarmte sie und sprach meine vielleicht letzten Worte: "Es ist nicht eure Schuld, also bitte weint mir nicht nach. Ihr habt noch ein ganzes Leben vor euch, dass ihr nur leben könnt, wenn ihr mich loslasst. Hörst du mich Dad? Weine nicht mir genauso nach, wie du es bei Mom machst. Finde jemanden, der dir hilft, neu anzufangen so wie Mom es auch gemacht hat. Und Mom, Matthew tut dir nicht gut, bitte realisiere das. Lass aber bitte diesmal deine Kinder nicht im Stich. Man kann auch Abenteuer erleben, wenn man Kinder hat. Du bist nicht gefangen. Also finde jemanden, der dir guttut."

Die Stadt, in der es mich nicht gibtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt