13. Die Botschaft

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Verträumt sah ich aus dem kleinen Fenster über Joliens Bett, während ich mit dem Rücken an dem hohen Fußteil des Betts lehnte. Anmutig flogen die ersten Vögel des Tages vor der aufgehenden Morgensonne.

Jolien lag mir gegenüber und schlief gleichmäßig atmend in ihrer Decke gekuschelt. Die ganze Nacht hatte ich nun hier schon gesessen, denn seit dem fünften Juli brauchte mein Körper, soweit ich ihn so nennen konnte, keinen Schlaf mehr.

Entspannt musterte ich Jolien beim Schlafen. Ihre helle Haut schien im Licht der aufgehenden Sonne endlich mal etwas Farbe abzubekommen. Vorsichtig strich ich ihr eine ihrer Strähnen aus dem Gesicht.

Während ich sie ihr sanft hinters Ohr steckte, traf mich die Realität auf einen Schlag. Unbehagen machte sich in meinen Körper breit und verdrängte jeglichen Impuls Jolien weiter zu beobachten.

Es war mir unangenehm, dass ich sie beobachtet hatte, denn ich verstand nicht, warum ich es getan hatte. Ich wusste nicht, was sich zwischen uns geändert haben sollte seit wir uns auf dem Berg trafen.

Immer mehr machte sich in mir das Gefühl breit, dass sie aus einem ganz bestimmten Grund dort gestanden hatte. Als sie auf dem Berg stand, fühlte sich alles an ihr nach einem Abschied an, einen Abschied, den ich nicht verstand oder einfach innerlich nicht verstehen wollte.

Ich wollte nicht weiter vom Schlimmsten ausgehen und glauben, dass Jolien aus irgendeinem, mir nicht erdenklichen Grund mit der Welt abgeschlossen hatte, weshalb ich meinen Blick von ihr abwandte.

In diesem Moment wollte ich einfach nur all die Gedanken um sie und mich, um uns, für einen Moment verdrängen, sodass ich meinen Blick wieder über ihr Zimmer schweifen ließ.

Diesmal fiel mir jedoch ein Detail auf, dass mir bisher unbekannt war. Auf dem schmalen weißen Schminktisch zwischen den beiden Türen stand eine gläserne Vase. In ihr befand sich eine verwelkte Rose, die den Anschein erwirkte, dass sie schon länger dort stand.

Ein kleiner Zettel hing mit einem Faden an ihr befestigt. In meine Richtung schien der Zettel weiß, doch ich war mir sicher, dass auf der anderen Seite etwas stehen musste. Vorsichtig stand ich von Joliens Bett auf und näherte mich der Rose. Sie schien so zerbrechlich, als würde sie bei der kleinsten Berührung in ihre Einzelteile zerfallen, weshalb ich möglichst fürsorglich nach dem Zettel griff.

Hinter mir nahm ich Bewegungen einer gerade aufwachenden Jolien wahr.

Noch bevor ich den Zettel umdrehen konnte, hörte ich Joliens verschlafene und panische Stimme hinter mir: „Finger weg!"

Erschrocken ließ ich den Zettel los und sah in Joliens panisches Gesicht. Unter ihren ängstlich funkelnden Augen sah man zum ersten Mal seit Langem keine Augenringe.

„Du kannst dir ansehen, was du willst, aber die Rose ist Sperrgebiet", drohte sie mir, während sie sich aus dem weißen Kleiderschrank neben dem Bücherregal ihre Kleidung fischte und im Bad verschwand.

Ich verstand nicht, weshalb ihr die Rose so wichtig war, doch ich tat, wie mir befohlen und rührte die Rose kein weiteres Mal an, denn ich wusste, dass ich nicht zu tief in ihre Privatsphäre eintauchen sollte.

In einem schwarzen Hoodie mit schwarzer Jeans verließ sie das Badezimmer und band sich ihre kurzen Haare zu einem kurzen Zopf.

„Jetzt bin ich dran mit Bedingungen stellen", sprach sie das erste Mal seit Langem selbstsicher, „Ich habe mir deine Geschichte angehört und dir erlaubt hierzubleiben, aber ich will mich endgültig überzeugen, dass du mir die Wahrheit sagst. Deshalb werden wir zusammen ins Krankenhaus fahren."

Ich nickte verständnisvoll, nachdem sie ihren Satz beendet hatte, und fragte grinsend: „Wann gehts los?"

Zuversichtlich griff sie nach meiner schwarzen Sweatshirtjacke auf ihrem weißen Schreibtischstuhl und hielt mir anschließend ihre Zimmertür auf. Es fühlte sich falsch an, dass ein Mädchen mir die Tür aufhielt, doch wir beide wussten, dass es ein ganzes Leben dauern würde, bis ich sie geöffnet hätte.

Gemeinsam liefen wir durch den gelb gestrichenen Flur mit dunklem Holzboden bis zur schmalen Treppe ins Untergeschoss. Wir befanden uns sofort im Wohn- und Esszimmer. Rechts von uns befand sich die große Doppeltür zur Küche.

Während Jolien sich ihre schwarzen Boots anzog, schwenkte mein Blick zur großen braunen Couch vor dem kleinen schwarzen Röhrenfernseher.

Auf dieser Couch saß ein älterer Mann mit einem dicken Bierbauch. Er saß dort mit einem befleckten grauen Unterhemd und einer blau karierten Unterhose. Die Bierflasche in seiner rechten Hand führte er gerade zu seinem Mund. Er fuhr sich mit der Hand durch das dünne graue Haar, während er seinen Blick an den Fernseher fesselte.

Mit einem Seitenhieb machte Jolien mir deutlich, dass sie fertig war und gehen wollte. Sie öffnete gerade die doppeltürige Haustür, als ihre Mutter aus der Küche erschien.

Mit einem Geschirrtuch trocknete sie gerade einen Teller ab. Ein paar verschwitzte Strähnen hingen ihr aus dem dunkelbraunen Zopf.

In sanftem Ton fragte sie Jolien interessiert: „Wo willst du denn hin? Willst du nicht erst noch frühstücken?"

Der Mann auf der Couch richtete seinen Blick noch immer stur auf den Fernseher, als Jolien den Kopf schüttelte und meinte: „Ich geh ein bisschen spazieren.

Im nächsten Moment verschwand sie auch schon durch die Tür, sodass ich Mühe hatte, mich zu beeilen, damit es nicht seltsam wirkt, wenn sie die Tür so lange aufhalten muss.

Still liefen wir in schnellen Schritten am Straßenrand entlang. Eigentlich hätte ich die Stille genossen, doch es kitzelte mich schon die ganze Zeit auf der Zunge diese eine Frage loszuwerden.

Möglichst rücksichtsvoll und desinteressiert klingend fragte ich sie: „Wer war der Mann eben?"

Eine Weile blieb sie still, bis sie kurz antwortete: „Mein Vater."

In meinem Kopf schien diese Information nicht zu der Alten zu passen, denn ich kannte Samuel Garcia nicht so. Ich kannte ihn als liebevollen Vater, doch ich hatte seit seiner Entlassung vor drei Jahren nichts mehr von ihm gehört.

Ich wollte gerade meinen Mund wieder öffnen, um nachzuhaken, als Jolien mich unterbrach und meinte: „Können wir über etwas anderen reden?"

Ich schloss meinen Mund wieder, denn ich war überrascht, dass sie, die kalte Jolien, so viel Emotion in diese paar Wörter legen konnte. Sie schien bedrückt fast traurig, als sie mich dazu aufforderte und mich wieder einmal dazu brachte ihr diesen Gefallen zu tun.

„Laufen wir jetzt den ganzen Weg oder was ist der Plan?", sprach ich deshalb interessiert.

„Die Schicht meines Bruders endet gleich. Er war heute Nacht in der Firma und ist jetzt wahrscheinlich im Wald. Er wird uns fahren", erklärte sie mir emotionslos.

Ich spürte während des gesamten Fußmarsches, dass sie in Gedanken nicht hier, bei mir, war. Sie schien wieder wie immer. Den Blick in die Ferne gerichtet und die Augen leer. Ich wusste nicht, welche Lasten Jolien in ihrem Leben zu tragen hatte, aber mit jeder Stunde, die wir gemeinsam verbrachten, wurde das Verlangen sie zum Lächeln zu bringen größer.

Ich begann schon so langsam es als meine Berufung zu empfinden, Jolien aus diesem Loch zu holen, diesem Loch, das sie komplett verschlingen wollte und es am Berg fast geschafft hätte.

Die Stadt, in der es mich nicht gibtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt