Mai - 1. Kapitel

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Musik ist der Klebstoff, der mein Leben zusammenhält. Er befestigt die porösen Stellen, macht sie weich und verdeckt den Schmerz, der mich ansonsten niederreißen würde. Musik hält mich auf eine Weise zusammen, wie nichts andere mich zusammenhalten kann. Außer Jamie – zumindest, bevor er beschlossen hatte, dass ich nicht mehr zu seinem Leben gehörte. Ich glaube, deshalb bin ich hier. Genau deshalb komme ich immer wieder in diesen Park, folge der leisen Melodie, die stetig lauter wird. Ich laufe so lange, bis die Musik des Fremden mich ausfüllt.
Sie fängt mich auf. Lässt mich atmen.

Ich stand am Rand der Menge, sah ihn an, diesen fremden jungen Mann, der es schaffte, mit nichts als einer Gitarre und seiner Stimme die Unruhe in meinem Herzen zu stoppen. Das kinnlange blonde Haar fiel ihm ins Gesicht. Feine Strähnen berührten seine geschlossenen Lider, während er über seine Gitarre gebeugt Run von Snow Patrol spielte. Seine Lippen formten Strophe um Strophe, langsamer und rauchiger als Gary Lightbody und mit so viel Gefühl, dass eine Gänsehaut meinen Körper überzog.
Mit meinen Augen folgte ich seinen langen Finger. Zielsicher greifen sie Saite um Saite. Ich folgte seinen muskulösen Armen bis über die Schulterblätter. Presste meine Fingerspitzen dichter aneinander. Unterdrückte den Impuls, seine Griffe zu imitieren. Die letzte Strophe erklang, und als er die Augen öffnete, trafen sich unsere Blicke. Mein Herz wollte glauben, dass er das extra machte, dass er mich ansah. Nur mich. Aber dann wandte er sich der Menge zu, schenkte ihr ein Lächeln. Ich wusste, wie lächerlich das war, auch nur einen Moment zu glauben, jemand wie er könnte jemanden wie mich überhaupt wahrnehmen. In dem tosenden Applaus konnte ich mein zu schnell pochendes Herz nicht mehr schlagen hören.

Seine Musik verklang, als ich an den Rand des Parks trat und in den Lärm der Stadt eintauchte. Ein kurzes Stück, dann wartete ich, bis die Ampel auf Grün sprang und überquerte die Straße. Lief auf die Tankstelle zu. K Market steht auf dem blau-gelben Neonschild über dem Eingang. Es flackerte, als ich durch die Schiebetür ins Innere trat.
Ich warf Herr Koskinen eine kurze Begrüßung zu, bevor ich zum ihm an den Tresen trat und meine Tasche verstaute.
„Pünktlich wie immer, Allison." Die Falten um seine Mundwinkel wurden tiefer, als er lächelte. „Geht's dir gut?" Mein Chef war ein hagerer, graubärtiger Mann Ende fünfzig. Tränensäcke und Falten ließen ihn älter wirken, als er war. „Alles wie immer."
Wenn die Menschen nicht tiefer schauen, und das taten sie fast nie, dann musste ich sie nicht anlügen. Dann musste ich ihnen nicht von dem Chaos erzählen, aus dem mein Leben bestand. „Das wollte ich hören." Er tätschelte meine Schulter, bevor er ging und die Tür seines Büros hinter sich zu zog.
Ich bin eine von vier Aushilfen, aber Herr Koskinen vertraute mir genug, um mich die meiste Zeit alleine arbeiten zu lassen. Er war froh, dass es mich gibt – mich, die junge Frau, die ihr ganzes Leben schon das Gegenteil zu hören bekam. Er sagte, ich bin gewissenhaft und ehrgeizig, und manchmal weiß ich nicht, ob er recht hat oder ob ich wieder nur eine Rolle von viele spielte, um zu sein, wie man mich haben wollte. Fakt ist: Ich brauchte diesen Job. Für das Stückchen Freiheit, das ich mir erkämpfen konnte.
Das schwirrende Geräusch der Schiebetür riss mich aus meinen Gedanken. Ich setzte ein Lächeln auf. Für diesen Kunden und auch für jeden weiteren.

Der K Market ist ein kleiner Tankstopp, eine Mischung aus Shop und Tankstellte mit zwei Stehtischen und einer kleinen Auswahl frischer Speisen. Es gibt Kaffee und belegte Sandwiches. Muffins und Salate. Die meisten Leute fuhren mit dem Auto ran, kamen herein, um das Benzin zu bezahlen, und verschwanden wieder. Manche griffen zu Snacks oder Getränken, ehe sie gingen, und nur einige wenige hielten sich hier länger auf, um zu essen. Ich mag die Mischung aus Einsamkeit und Small Talk. Meine Arbeit ist einfach. Es gab immer etwas zu tun, ich hatte aber auch genug Zeit, um meinen Gedanken nachzuhängen. Wenn ich allein war, starrte ich aus dem Fenster. Beobachtete die vorbeirasenden Autos und das Leben, das auf dieselbe Weise an mir vorbeizog.
Meine Schicht ist ruhig. Ich verkaufte Chips und Bier, Eis, Muffins und eine Handvoll Sandwiches. Mit jeder Stunde, die verging freute ich mich mehr auf nachher. Doch als ich den K Market verließ, waren Maila und Joonas nirgends zu sehen. Heute Morgen, bevor sie zum Imbiss gefahren waren, hatte Maila versprochen, pünktlich zu sein. Wir hatten am Frühstückstisch unsere Lieblingssongs gehört, um uns auf das Konzert einzustimmen, und sie hatte gesagt, dass sie an der Ecke zum Park stehen würden, um mich abzuholen.
Aber von Joonas' Auto fehlte jede Spur. Ich zerrte mein Handy aus der Tasche, um ihre Nummer zu wählen. Mehrere Minuten lang war da nichts weiter als Mailas Schluchzen, und ich wusste, dass sie nicht kommen würde. „Habt ihr euch wieder gestritten?"
„Es war alles okay, verstehst du? Wir haben geredet, und plötzlich hat er einfach gesagt, er hat keinen Bock auf mich. Deine ständigen Gefühle kotzen mich an, hat er geschrienen. Und -", ihre Stimme brach. „Hat er dich wieder rausgeworfen?" Sie gab keine Antwort, und das bedeutete, dass ich richtig lag. Ich wischte mir mit der freien Hand über den Mund, ehe ich sagte: „Ich komme und hole dich ab, und dann fahren wir nach Hause und kuscheln uns auf die Couch und schauen all die Filme, die du liebst und die ..."
„Nein", unterbrach sie mich. „Ich will, dass du trotzdem zum Konzert fährst. Du hast dich so gefreut und ich will, dass du hingehst. Bitte, Chérie."
„Maila ..."
„Nein", sagte sie mit fester Stimme. „Ich kriege das hin. Ich werde mir einfach ein Taxi rufen und auf dich warten."
„Sicher?"
„Ja, und jetzt beeil dich, sonst verpasst du noch das Beste!" Sie legte auf, ehe ich mich verabschieden konnte. Ich wusste nicht, ob es mich zu der miesesten Freundin der Welt machte, ihr in ihrem Kummer nicht sofort beizustehen. Aber sie hatte recht. Ich freute mich seit Wochen auf dieses Konzert. Und solange sie es nicht schaffte, Joonas komplett aus ihrem Leben zu streichen, würde sowas immer wieder passieren. Ihre Beziehung war ein zermürbendes Auf und Ab.

Weil ich dich braucheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt