28. Kapitel

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Ein schriller Schrei ließ mich aufschrecken. Maila.
Ich ignorierte den Schmerz hinter meinen Schläfen, rutschte aus dem Bett und riss die Tür auf. „Allie! Emma!", schrie Maila. Als ich im Wohnzimmer ankam, stand sie da, mit einer leeren Weinflasche bewaffnet. Und vor ihr: Jamie, der sich gerade aus dem Sofa aufsetzte. Filou sprang von seinem Schoß und strich Maila um die Beine. Die Situation war grotesk und unwirklich. Maila mit der hocherhobenen Weinflasche, wirrem Haar und nichts als einem kurzen Shirt bekleidet. Und mein Bruder, der seelenruhig dasaß und die Arme in die Höhe streckte. Maila fuchtelte wild mit ihrer freien Hand, damit ich reagierte. „Ruf die Polizei, Allie!", sagte sie ununterbrochen. „Maila ...", mischte sich Emma ein, die zeitgleich mit Samu aufgetaucht war. Aber Maila brabbelte einfach weiter. „Sag der Polizei, hier schläft ein Einbrecher auf unserem Sofa!"
„Wird man bei euch morgens immer so begrüßt?", fragte Jamie und zwinkerte mir zu. Die Weinflasche noch immer erhoben, wirbelte Maila zu mir herum. „Du kennst ihn, Chérie?" Emma versuchte, sich ein Lachen zu verkneifen, aber scheiterte auf ganzer Linie. Maila wirbelte zu ihr herum: „Was ist so witzig?" Emma legte den Kopf schief. „Wie viel von dem Wein hast du getrunken, Süße? Denk mal nach: Seit wann legen sich Einbrecher auf fremde Sofas?" Maila kratzte sich mit ihren langen Nägeln an der Nase und ließ sich stöhnend auf dem Sessel neben dem Sofa nieder. „Nach der ersten Flasche habe ich aufgehört zu zählen", gab sie zu. Einen kurzen Moment presste sie ihre Hände auf die Augen, ehe sie sagte: „Gut, Also schön, Couch-Potato, spuck es aus: Wer bist du?"
„Jamie", stellte er sich vor. „Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe. Samu hat sich im Bett so breitgemacht, dass ich mir einen anderen Platz gesucht habe." Seine Lippen kräuselten sich, als sie erst ihn, dann mich anstarrte. „Jamie ist Allies Bruder, Süße", erklärte Emma einen Moment später, und Maila starrte weiter mich an, während Emma sich umdrehte und lächelte. „Gott Jamie, du hast keine Ahnung wie sehr ich das vermisst habe."
„Ich finde es auch schon, dich zu sehen, Rotkäppchen."
„Ich habe gehofft, du vergisst diesen Spitznamen mit der Zeit." Jamie lachte leise, machte einen Schritt auf sie zu und zog sie in eine kurze Umarmung. „Das kannst du vergessen." Da war diese Vertrautheit, die schon früher zwischen ihnen war. Sie leuchtete auf, als hätte es all die Jahre nie gegeben, und ich liebte es, ihnen dabei zuzusehen. „Wie geht es dir?", fragte Samu neben mir. Mit seiner Frage erinnerte er mich an den Schmerz, der hinter meinen Schläfen pochte. „Ich glaube, etwas besser als Maila." Ich nickte in ihre Richtung. Wenn ich sie so ansah, wie sie auf dem Sessel in sich zusammengesunken die Hände gegen den Kopf drückte, dann wusste ich, dass ich Glück hatte. „Sieht verdächtig danach aus, als könnten hier mehrere ein Katerfrühstück gebrauchen." Samu ging zielstrebig auf den Kühlschrank zu. „Was meinst ihr?" Maila nahm die Hände von den Augen und seufzte: „Oh bitte, ja!"

Während Samu in der Küche hantierte und Speck und Spiegeleier zauberte, saß Maila stöhnend auf dem Sessel. Jamie und Emma saßen daneben, in ein Gespräch vertieft. Ich ging zurück in mein Zimmer. Um meine Gedanken zu ordnen. Ich riss das Fenster auf und setzte mich auf die Fensterbank. Denn obwohl es erst kurz nach neun war, war es furchtbar heiß. Eine ganze Weile starrte ich in den Innenhof. Auf die Zypressen und die Margeriten, die unsere Nachbarin gepflanzt hatte. In meinem Kopf war ein fruchtbares Durcheinander aus Fragen. Jamie war so urplötzlich zurück in meinem Leben, dass es mich ins Taumeln brachte. Ich wusste nicht, was das mit mir machte. Was das bedeutete. Jahrelang wollte ich nichts mehr als eine Antwort darauf, warum er mich verlassen hatte. Jetzt hatte ich meine Antwort. Und das machte es besser – aber gleichzeitig schlimmer.
Ich verstand, warum er mich verlassen hatte. Ich verstand es mit meinem Herzen, mit meinem Verstand. Aber gleichzeitig verstand ich gar nichts. Erst als Jamie sich neben mir räusperte, bemerkte ich, dass er bereits eine ganze Weile in meinem Zimmer stehen musste. Die Tür war geschlossen, und auf meinem Schreibtisch stand ein Tablett mit Spiegeleiern, frischem Brot, Speck und einem Kaffee. „Hey ..." Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Gestern Abend stand ich neben mir. Ich war betrunken. Es war einfach, mit ihm zu sprechen. Aber jetzt hatte ich Angst. Vor den Worten, die ausstanden. Vor dem, was wir sagen mussten.

Weil ich dich braucheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt