August - 30. Kapitel

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Der August begann mit dem Gefühl von Freiheit, das ich nie zuvor gespürt hatte. Nicht im Tanners arbeiten zu müssen, nicht zurückgeworfen zu werden in diesen Teil meines alten Lebens machte ganz viel mit mir. Das erste Mal in meinem Leben schämte ich mich nicht für den Job, den ich hatte. Und das erste Mal seit Monaten dachte ich darüber nach, was ich stattdessen tun könnte. Es waren zwei Wochen vergangen, seit Jamie und ich in das Büro unserer Mutter gestürmt waren und die Ketten zerrissen hatten. Zwei Wochen, in denen ich meine Handynummer gewechselt und nicht einen Drohbrief erhalten hatte. Zwei Wochen, in denen Jamie und ich Zeit miteinander verbracht hatten, um die Lücken der letzten Jahre zu füllen. Über das zu reden, was passiert war, und über die Entscheidungen, die uns getrennt hatten.
Es war nicht so, als wäre all das nie passiert. Dafür war zu viel geschehen. Aber ich verstand ihn. Ich verstand, welches Opfer er gebracht hatte – für mich. In diesem Sommer, den ich in London verbracht habe, hatte er das Gefühl, die Kraft und die Freiheit in mir zu spüren bekommen. Ohne den Druck unserer Eltern, ohne die Streitereien, die Wut und die Angst hatte ich gelöst auf ihn gewirkt. Aber er war es, der zurückgeblieben war. Er war es, der sich all dem, was wir jahrelang gemeinsam erduldet hatten, alleine stellen mussten. Für mich ging es in London nur darum, so schnell wie möglich zu ihm zurückzukommen. Doch Jamie ging es darum, mich nie wieder so verletzt zu sehen. Er hatte sich eingeredet, dass nur einer von uns je glücklich und frei sein konnte. Und er wollte, dass ich das bin. Für diese Entscheidung konnte ich ihn weder hassen noch verachten. Ich konnte ihm nicht böse sein oder sie ihm nachtragen. Ich hatte ihm verziehen.

„Hey, verlorener Bruder." Maila schob sich mit ihrer Zeitschrift auf das Sofa. Sie trug ein cremefarbenes Kleid, das am Ausschnitt gerafft und darunter mit einem rosa Glitzerband umschlossen war. „Wird sie irgendwann aufhören, mich so zu nennen?", fragte Jamie mich. Ich rührte Zimt in meinen Latte Macchiato. „Ich fürchte, nein." Er warf Maila einen Blick zu, wie sie Seite um Seite in einem Hochglanzmagazine durch blätterte und sich dabei auf der Lippe herumkaute. Kurz entschlossen stand er auf, um sich neben sie auf das Sofa zu schieben. „Was machst du da, Glittergirl?"

Glittergirl?

Ich unterdrückte ein Lachen. Bei ihrer Vorliebe für Glitter und angesichts der Tatsache, dass wir in der gesamten Wohnung noch immer Glitzerkonfetti fanden, ein passender Name. Maila schlug die Zeitung zu. „Hör mal, du Held in Badboy-Optik, in dieser Wohnung gibt es ein ungeschriebenes Gesetz: Wenn ich auf diesem Sofa liege und lese, dann will ich dabei nicht gestört werden."
„Nach lesen sah das jetzt nicht gerade aus", konterte er und grabbelte die Zeitschrift aus ihren Fingern. „Was Sie von der Elite über Lust & Liebe lernen können? – das hast du doch gar nicht nötig." Maila verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Jamie kopfschüttelnd. „Dieses Shirt geht echt gar nicht", sagte sie. „Wieso trägst du so was, Lostboy?" Emma lachte neben mir. „Pass bloß auf, Jamie. Sie wird dich einkleiden wollen." Mailas Augen wurden schmal. „Was er auch nötig hat. Ich meine, ein schwarzes Hemd im Hochsommer, und dann auch noch ausgerechnet mit Karomuster? Und das über einem so heißen, eng anliegenden Shirt?" Sie schob sich vom Sofa und umfasste kopfschüttelnd seinen Arm. „Ich hab was in einem Schrank, das passt besser dazu. Komm mit." Jamie grinste und bewegte sich nicht von der Stelle. „Ich mag meine Sachen. Dieses Hemd habe ich aus einem anderen Grund an." Ihre Augen wurden groß. „Und warum solltest du dich bitte freiwillig so verschandeln?" Er winkte mich zu sich. Wartete, bis ich neben ihm stand. Als er heute Mittag hier aufgetaucht war, in diesem Hemd über seinem Shirt, hatte ich mich auch gefragt, warum. Draußen waren es über dreißig Grad. Unpassendes Wetter für diesen Zwiebellook. Jamie zerrte sich Hemd und Shirt über den Kopf. Maila zog scharf die Luft ein und starrte seinen durchtrainierten Oberkörper ungeniert an. „Wow."
„Gott Maila, du bist so berechenbar", lachte Emma neben Samu am Tisch.
„Ich hab nie ein Geheimnis daraus gemacht, wie heiß ich gut trainierte Männer finde", sagte Maila achselzuckend. Mein Blick fiel auf Jamies Arm. „Du hast dich tätowieren lassen?", fragte ich ungläubig. „Gestern Nachmittag." Ich trat näher und betrachtete die Innenseite seines rechten Handgelenks. Die Haut war noch gerötet und die schwarze Schrift trat deutlich hervor, aber dort stand ein kurzer, prägnanter Satz. In geschwungener, wunderschöner Schrift.

Weil ich dich braucheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt