26. Kapitel

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Meine Mutter lehnte an ihrem Schreibtisch. Ihr Blick war missbillig und das Feuer in ihren Augen eiskalt. „Muss ich dir wirklich erklären, was du getan hast?", zischte sie mit erhobenen Händen. „Dieses Event ist das Aushängeschild des Tanners. Schlimm genug, dass du diesen Straßenjungen mitschleppst und er wie ein Hündchen hinter dir her dackelt: Aber vor deinem Vater und vor Herr Heikkinen ein so rebellisches Verhalten an den Tag zu legen: So habe ich dich nicht erzogen, Allison! Also was bitte hast du dir dabei gedacht?"
„Eigentlich nichts", sagte ich schulterzuckend. Ich konnte mir selbst dabei zusehen, wie ich einen Fehler nach dem anderen machte. Es war dumm. Es war furchtbar dumm, aber mein Mund war schneller als mein Kopf. Weil ich es so satt hatte, zu lügen. Weil ich es so satt hatte, ein Teil ihrer Unwahrheiten zu sein, mit denen sie sich ihr Leben zurechtbogen, als wäre es ein Stück Papier. „Du solltest lieber aufpassen, was du sagst", drohte sie.
„Warum? Weil Jamie gar nicht auf der Uni ist? Ihr wisst nicht mal, wo er steckt, stimmst?" Ihr Mund öffnete sich, dann schloss er sich wieder. Sie würde niemals zugeben, dass sie log. Sie konnte niemals sagen, wenn sie unrecht hatte, oder sich entschuldigen. Das lag nicht in ihrer Natur. „Nein", sagte sie. „Weil du es geschafft hast, dass dein Arbeitsbeginn im Tanners bereits am Montag ist." Sie lachte, als ich zusammenzuckte. „Was? Hast du gedacht, ich lass dir dieses Verhalten durchgehen? Denkst du, du bist jetzt erwachsen und kannst tun und lassen, was du willst? Du wirst niemals tun, wonach dir ist, versteh das endlich. Im Leben geht es nicht darum, was man will. Es geht um Respekt und Anpassung. Darum, zu funktionieren. Und wenn du das nicht tust, wenn ein bisschen Freiheit dich gleich zu einer solchen Rebellin macht, dann lässt du uns keine Wahl." Ich biss mir so fest auf die Lippe, dass ich Blut schmeckte.
Das kann sie nicht tun.

Ich drehte mich um. Alles, was ich wollte, war aus diesem Büro, aus diesem Haus zu verschwinden. „Ich bin noch nicht fertig", sagte sie laut. „Setz dich." Sie wartete, bis ich mich widerwillig auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch fallen ließ, ehe sie eine Mappe aus der Schublade zog. „Deine Unterschrift gehört auf die letzte Seite."
Ich starrte auf die Zettel. „Ich ... ich soll einen Arbeitsvertrag unterschreiben?" Ich starrte sie an. Dann starrte ich die Mappe an und den Stift, den sie mir zuwarf. „Falsch. Du wirst ihn unterschreiben."
Nein. Nein. Nein.
„Ferguson, sagt dir der Name was?", wechselte meine Mutter plötzlich das Thema. Ihre Finger führte sie immer wieder zu einem Dreieck auf dem Tisch zusammen. Aber als ich nicht antwortete, sagte sie: „Matthew Ferguson ist Rechtsanwalt in der Allister Kanzlei. Der Kanzlei, die ihre Geschäftsessen, ihre Mitarbeitermeetings und ihre Kanzlei-Internen-Angelegenheiten im Tanners abhalten." Was so viel heißt, wie dass sie ein wichtiger Kunde sind. Wenn nicht einer der Angesehensten, mit jeder Menge Kohle. Worauf auch immer meine Mutter hinauswollte, ich kapierte es nicht. „Der Name sagt mir nichts, Mum. Tut mir leid."
Sie lachte trocken. „Natürlich nicht. Für solche Nebensächlichkeiten hast du dich noch nie interessiert und genau deshalb verursachst du Schäden, die andere ausbügeln müssen." Unter der Wucht ihrer Stimme zuckte ich zusammen. Was für Schäden? Ich blinzelte sie an. Suchte nach Antworten in ihren Augen. Nach dem Anhaltspunkt, an dem ich aufrollen konnte, was hier schlief lief. „Einer seiner Kollegen ist sehr ungehalten wegen den Vorwürfen gegenüber seinem Sohn Timo oder besser die Anzeige gegen ihn."
Was?
„Mum sie haben ...", versuchte ich es, doch ihr Blick brachte mich abrupt zum Schweigen. „Diese jungen Männer haben gar nichts, Allison. Du reagierst über und du hast es alleine der Geistesgegenwart deines Cousins zu verdanken, dass das Tanners unter deiner Fehlentscheidung nicht leiden muss. Deshalb wirst du diesen Arbeitsvertrag unterschreiben. Du hattest deine Chance, mir zu beweisen, dass du erwachsen bist. Aber allein dein vorpubertäres Verhalten deinem Vater gegenüber lässt mich daran zweifeln, dass du überhaupt irgendwann in der Lage sein wirst, gute Entscheidungen zu treffen. Du hast dir das selbst eingebrockt. Ich werde dem einen Riegel vorschieben und ein Auge auf dich haben, also: unterschreib."
„Mum ..."
„Unterschreib den Vertrag, Allison", sagte sie mit eiskalter Stimme. Ich sah mir selbst dazu zu, wie ich den Stift ergriff. Wie ich die Blätter zurückschlug. Seite für Seite. Auf die dünne Linie starrte, die mein Schicksal besiegeln sollte. „Worauf wartest du?", fragte sie. „Du weißt genauso gut wie ich, dass du unterschreiben wirst, also, erspar uns dieses Theater. Damit machst du es nur schlimmer." Tat ich das? Konnte ich es wirklich schlimmer machen, was bereits mein halbes Leben lang aus dem Ruder lief?

Weil ich dich braucheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt