17.

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Kyran sagt mir am nächsten Tag, dass er am Wochenende keine Zeit hat, weil er wegfährt. Ich überlege kurz, nachzufragen wohin die Reise geht, doch seinem zerknirschten Gesichtsausdruck zufolge wird er mir wahrscheinlich nicht verraten, was ihn so sehr bedrückt, dass er sein Wochenende dafür opfert.

Ihm steht die Reue ins Gesicht geschrieben, als er sich durch das dichte dunkle Haare fährt, so als sei ihm das, was er nun sagen möchte unglaublich unangenehm. »Wäre es in Ordnung, wenn ich jetzt schon gehe? Ich muss noch einige Sachen klären, bevor ich losfahre.«

Ich hebe nicht einmal den Blick, schaue ihn nicht an. Warum auch? Ich kann ihm schlecht sagen, dass ich ihn lieber bei mir hätte, dass ich ihn an mich ketten und nicht gehen lassen möchte. Am liebsten würde ich ihm sagen, dass ich ihn gerne bei mir habe, auch wenn ich manchmal ziemlich kratzbürstig reagiere. Ich genieße es, Kyran an meiner Seite zu haben. Seine Anwesenheit beruhigt mich und es tut gut endlich mal einen Freund zu haben, einen anderen Freund. Auch wenn er oft fies sein kann, er schafft es immer wieder mein Herz zu berühren und das ganz allein durch Worte, er hebt meine Laune durch kurze Blicke. Aber das alles könnte ich ihm nie anvertrauen, denn es wäre nicht nur verdammt gruselig sondern auch ziemlich egoistisch. Stattdessen nicke ich einfach nur, doch er scheint die Augen keine Sekunde von mir zu lösen. Ich schlucke schwer.

»Tut mir leid«, murmelt er, während ich wie immer über seinen Chemieaufgaben sitze und grübele. Das neue Thema liegt mir nicht ganz so, wie die Themen zuvor und deshalb brauche ich länger als sonst, aber die Hausaufgaben rücken sowieso in den Hintergrund, denn viel mehr ist es Kyrans Anwesenheit, die mich voll und ganz einnimmt. Und obwohl ich versuche seinem Blick auszuweichen, spüre ich, dass er mich ansieht.

Ich drohe unter seinem intensiven Blick zu platzen. Seine Blicke verunsichern mich jedes Mal und am liebsten würde ich mich abschirmen und vor ihnen schützen, auch wenn ich weiß, dass sie mir nichts tun können. Nachdem ich es nach langer Zeit nicht mehr aushalte, hebe ich schließlich den Blick und schüttele lächelnd den Kopf. »Alles gut, Kyran. Geh und hab Spaß. Wir sehen uns dann am Montag.«

Er scheint nichts von meiner plötzlichen schlechten Laune zu bemerken oder er ignoriert es absichtlich. Vielleicht möchte er einfach keinen Streit beginnen, genauso wenig wie ich. Denn im Streit auseinander zu gehen, ist wohl das letzte, das ich möchte. Doch am liebsten würde ich ihn darum bitten, hier zu bleiben oder mich mitzunehmen, denn ein ganzes Wochenende ohne ihn scheint mir inzwischen unmöglich. Wie soll ich denn die Zeit tot schlagen?

»Keine Umarmung zum Abschied?«, fragt er grinsend, als er aufsteht und die Arme ausstreckt. Ich schaue wieder von den Aufgaben auf und kann mir mein Grinsen einfach nicht verkneifen. So wie er da steht, das sieht einfach zu witzig aus, um nicht zu lachen, doch ich schüttele bloß den Kopf. »Nein.«

»Wieso nicht?« Er sieht ehrlich überrascht aus, die Arme fallen zu seinen Seiten und irgendwie habe ich plötzlich Mitleid mit ihm. Ich möchte nicht, dass er traurig ist, möchte nicht dieses schmollende Gesicht in Erinnerung haben, wenn ich zurück an ihn denke und mir vorstelle wo er wohl gerade ist und was er treibt. Leere Vermutungen aufzustellen, ist das letzte was ich möchte, aber ich schaffe es nicht drumherum, frage mich andauernd was er verheimlicht und stelle dabei die lächerlichsten Vermutungen auf.

»Weil ein Abschied für immer ist und das bedeuten würde, dass ich dich nie wiedersehe und das will ich nicht«, ich lächle unsicher, weiß nicht, woher ich den Mut genommen habe, ihm so etwas zu beichten, aber es die Worte haben meinen Mund verlassen, bevor ich nachdenken kann. »Aber wenn du wiederkommst, bekommst du eine Begrüßungs-Umarmung. Versprochen. Also beeil dich.«

Er wirkt einige Sekunden lang total schockiert und sprachlos, dabei glaube ich, ihn noch nie sprachlos gesehen zu haben. Doch dann passiert etwas in seinem Gesicht, sein überraschter Gesichtsausdruck verwandelt sich in ein breites Lächeln bevor er schließlich nickt. In diesem Moment erinnert er mich an einen kleinen Jungen und ich lache leise in mich hinein.

Kyran steht auf, packt seine Sachen zusammen und macht sich auf den Weg. Als er an mir vorbeigeht, wuschelt er mir durch die Haare, weil er weiß, wie sehr ich das hasse. Ich werfe ihm einen wütenden Blick zu, aber er lächelt nur noch breiter und winkt mir zum Abschied zu. »Bis Montag.«

-

Nachdem das Wochenende ziemlich unspektakulär vorübergegangen ist, sehe ich Kyran am Montagnachmittag wieder. Er ist nicht in der Schule gewesen, was mich nicht überrascht hat, denn er hat mir am Tag zuvor noch geschrieben, dass er es nicht schaffen wird am Montag in die Schule zu kommen. Es war nicht viel anders als sonst, da ich kein Chemie hatte und auch kein Sport, habe ich ihn nicht wirklich im Unterricht vermisst, denn wir teilen sonst keine Kurse, aber dennoch habe ich in den Pausen unbewusst nach ihm gesucht, habe den Kopf in alle Richtungen gestreckt und umher geschaut, was mir erst aufgefallen ist, als Tessa es erwähnt hat.

»Nach wem suchst du?«, hat sie plötzlich während des Essens gefragt. Ich bin mitten in meiner Observation zusammengezuckt und habe sie angestarrt. »S-suchen?«

»Ja, suchen. S. U. C. H. E. N.« Sie hat ihre Augen abgeschirmt und den Kopf einmal nach links, dann nach rechts gedreht, bis sie mich wieder angesehen hat, in dem Versuch mir zu erklären, was suchen bedeutet. Ich habe bloß die Augen verdreht, denn Tessa ist eine echte Dramaqueen und muss andauernd übertreiben. »Ich weiß, was suchen bedeutet, Tess, und ich suche nach niemandem.«

Plötzlich hat sich ihr Gesicht erhellt und sie hat mich grinsend in die Seite gestupst. »Suchst du etwa nach Kyran? K. Y. R-«

»Pssscht«, habe ich gezischt und umher geschaut, um auch ganz sicher zu gehen, dass uns keiner zugehört hat. »In der Schule wird nicht über ihn geredet.«

Den Rest des Tages hat sie sich Gott sei Dank an meine Regel gehalten und Kyran mit keinem Wort mehr erwähnt. Ich habe trotzdem weiter nach ihm gesucht und jedes Mal, als ich mich selbst dabei erwischt habe, habe ich den Kopf geschüttelt und versucht an etwas anderes zu denken.

Doch als er am Nachmittag vor mir steht, lächelt er wie eh und je. Er sieht besser aus, irgendwie ausgeschlafener und erleichteter, so als wäre ihm eine schwere Last von den Schultern gefallen. Es macht mich glücklich, ihn so zu sehen. Ich lächle zurück und drehe mich um. Gerade als ich wieder ins Haus gehen möchte, hält er unerwarteterweise mein Handgelenk fest. Der Griff ist nicht fest, aber fest genug, um mich zurück wirbeln zu lassen. Verwirrt drehe ich mich um, schaue ihm in die strahlenden, blauen Augen und hebe die Brauen an. »Was ist?«

Er lässt mein Handgelenk wieder los und breitet grinsend die Arme aus. »Wo bleibt meine Umarmung?«

Zuerst verstehe ich nicht ganz, was er meint, doch als ich das freudige Lächeln in seinem Gesicht sehe, erinnere ich mich an unser Gespräch am Freitag und werde schlagartig rot. Bevor ich irgendetwas sagen kann, zieht er mich schon in seine Arme und drückt mein Gesicht an seine Brust, während er sein Kinn auf meinen Kopf legt. So als hätten wir uns jahrelang nicht mehr gesehen. Völlig perplex stehe ich da und lasse mich von seinen Armen erdrücken, vielleicht fällt ihm ja irgendwann mal noch ein, dass ich noch atmen muss. Hoffentlich noch früh genug.

Ich höre sein Herz klopfen, es schlägt genau unter meinem Gesicht und obwohl mich die Tatsache, dass wir uns umarmen, unglaublich nervös macht, fühle ich mit einem Mal ziemlich wohl an seiner Brust. Sein Herzklopfen beruhigt mich.

KyranWo Geschichten leben. Entdecke jetzt