45.

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Ich habe seine Hausaufgaben gemacht. So, wie ich es - seit einigen Monaten nun schon - jeden Tag auch tue. Für heute stand Chemie und Physik an. Doch als ich an diesem Morgen vor dem Unterricht auf ihn warte, kommt er nicht.

Verwundert stelle ich mich auf die Zehenspitzen und schaue über die Köpfe meiner Mitschüler, die alle in die Klassenräume stürmen, doch auch im Gang ist weit und breit kein Kyran in Sicht. Kein brauner Haarschopf und auch keine stechend blauen Augen, die sich in meine bohren.

»Warum gehst du nicht rein?«, fragt Tessa und atmet schwer, als ich zehn Minuten später immer noch vor dem Klassenraum stehe und auf Kyran warte.

Sie lässt sich kurz gegen den Türrahmen fallen und schnappt nach Luft. Vermutlich ist sie den ganzen Weg gerannt, weil sie verschlafen hat - so, wie sie jeden Morgen verschläft und dann den ganzen Weg zur Schule rennen muss. Es ist immer dasselbe mit ihr. Sie scheint nie daraus zu lernen.

Und wenn Tessa schon vor Kyran in der Schule auftaucht, läuft irgendetwas daneben. Und zwar gewaltig daneben.

Sie packt mich an der Schulter und drückt mich vor sich in den Klassenraum. »Mr. Glines wird vermutlich jeden Moment hier sein. Er soll nicht wissen, dass ich schon wieder zu spät bin. Dieses Mal komme ich bestimmt nicht einfach so davon.«

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Als Mr. Glines Kyrans Namen aufruft, fühlt es sich an, als stünde ich unter Strom. Ich halte den Atem an, klammere mich an meinen Stift, warte darauf, dass er wie üblich ein »Hier« von sich gibt und habe Angst davor, Luft zu holen. Die Sorge, dass ich vielleicht seine Stimme überhöre, hält mich davon ab. Doch als Mr. Glines schließlich, den Blick hebt, einmal durch den Raum blickt und etwas notiert, wird mir klar, dass Kyran nicht hier ist.

Zuerst glaube ich, dass er vielleicht zu spät dran ist, doch auch nach den ersten vierzig Minuten der Doppelstunde, in denen meine Augen vermutlich Löcher in die Tür gestarrt haben, taucht er nicht auf und irgendwann wird mir klar, dass er heute wohl nicht kommen wird.

Ich stutze. Eigentlich sagt er mir immer Bescheid, wenn er krank ist oder andere Termine hat und deshalb nicht kommen kann. So ein Verhalten ist unüblich für ihn.

Während Mr. Glines vorne an der Tafel steht und über irgendwelche Aminosäuren spricht, die sich zu einzelnen Peptiden zusammen knüpfen, sitze ich da, starre auf die Zeichnungen aus Buchstaben und Strichen, die er vorne hinkritzelt und wünsche mir zum ersten Mal in meinem Leben, dass wir früher aus dem Chemieunterricht gelassen werden. Denn umso länger ich hier sitze, umso öfter huscht mein Blick im Sekundentakt zur Tür und wieder zu Kyrans leerem Platz am Fenster. Und ich glaube nicht, dass das gesund sein kann.

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Der Tag vergeht schleppend und mir fällt plötzlich auf, wie langweilig und fad die Schule ohne Kyran ist. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich ohne ihn den Tag überstanden habe. Was habe ich in meiner Freizeit gemacht? Was habe ich nach der Schule gemacht, an den Nachmittagen, an denen ich immer einsam gewesen bin?

Tessa erzählt mir von irgendeinem Typen, aber meine Gedanken sind so voll mit anderen Dingen, dass ich mir nicht einmal seinen Namen merken kann. Doch glücklicherweise gibt sich Tessa mit meinen einsilbigen Antworten zufrieden und erwartet nicht, dass ich mehr als das zu unseren Gesprächen beisteuere.

»Er kann mich doch nicht einfach mit einem lächerlichen Opel abholen«, murmelt sie fassungslos, so als wäre es tatsächlich eine Beleidigung, jemanden bei einem Date mit einem Opel abzuholen. »Kannst du das fassen? Ein Opel! Hah! Ich bin mindestens einen BMW wert. Mindestens. Das siehst du doch auch so, oder?«

KyranWo Geschichten leben. Entdecke jetzt