Kapitel N°10 - Von Akzeptanz und Spermien

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Nachdem ich letztendlich ausgeschlafen hatte, ging ich hinunter ins Wohnzimmer, wo sich Mama, Jürgen, Melissa, Damian und auch Yannick bereits versammelt hatten. Sie schienen auf irgendjemanden zu warten und ich hatte die Vermutung, dass sie auf mich warteten.

Was ist hier los?, fragte ich also und es breitete sich ein unangenehmes Gefühl in meinem Bauch aus.

Sogar die Schmetterlinge hatten sich in diesem Moment zurückgehalten und diese Tatsache schockierte mich, da dies bekanntlich nicht so oft der Fall war. Also setzte ich mich zu ihnen an den Tisch und hoffte, dass sie uns nichts allzu Schlimmes mitteilen würden. Doch ich hatte mich getäuscht, denn diese Nachricht veränderte mein Leben wortwörtlich.

Also, da Jürgen und ich schon länger zusammen sind, fing meine Mama an, doch mein Bruder unterbrach sie: Mama, sag bitte was Sache ist, ich muss los.

Okay, also ich und Jürgen, fuhr sie fort, doch Jürgen fiel ihr ins Wort: Wir ziehen zusammen, als Familie in ein großes Haus, nicht weit von hier.

Wow damit hatte ich nicht gerechnet und die anderen anscheinend auch nicht, da niemand von uns etwas sagte, denn wir mussten diese Nachricht erstmal verdauen. Ich war noch immer komplett überfordert mit der Situation, als Yannick fragte, wann es denn so weit sei und Jürgen antwortete, dass wir schon in einer Woche umziehen würden. Diese Nachrichten waren eindeutig zu viel für mich. Ich sprang von meinem Stuhl auf, ging in mein Zimmer und wählte zitternd die Nummer von Vanessa.

"Hey, kann ich zu dir kommen?, fragte ich also leise und sie merkte sofort, dass etwas nicht mit mir stimmte.

Ja natürlich kannst du kommen, aber Paul ist hier. Was ist denn eigentlich los, Süße?, antwortete sie, aber ich wollte nicht zu ihr und mir ihr Geturtel mit Paul ansehen.

Zu Rebekka konnte ich auch nicht, weil Damian bei ihr ist und auf diese beiden hatte ich auch keine Lust.

Passt schon. Egal ich will euch nicht stören., antwortete ich nur und beendete den Anruf.

Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte, also entschied ich mich dafür einfach spazieren zu gehen und hoffte die Neuigkeiten ein bisschen zu verdrängen. Also ließ ich mein Handy auf das Bett fallen, zog mir meine Jacke an und verließ das Haus. Als ich das Haus verließ, fiel mir erst auf das es schon dunkel geworden ist, aber das war mir egal. Mich würde eh keiner entführen und vergewaltigen.

Ich weiß nicht warum, aber ich lief los, nicht weil ich den Gedanken mit Jürgen, Yannick und Melissa in ein Haus zu ziehen, nicht ertrug, sondern weil mich die ganze Situation überforderte. Mein Papa war tot und dies schon seit mehreren Monaten, doch irgendwie hatte ich diese Trauer und die Wut auf das Leben, das entschied mir meinen Vater einfach so wegzunehmen, nie richtig an mich rangelassen. Doch jetzt 3 fast 4 Monate später war es soweit. An der Beerdigung hatte ich natürlich sehr geweint, aber erst mit der Zeit fiel einem der Wert und der Verlust dieser Person auf, da man Zeit hatte das Ganze zu realisieren. Es gibt ja auch das Sprichwort Zeit heilt alle Wunden, doch dies ist nicht der Fall. Die Trauer und der Schmerz, die ich immer noch empfinde, nahmen im Laufe der Zeit an Intensität zu. Irgendwann kommt man aber an einen Punkt, an dem man erkennt, dass die Person nicht zurückkehrt und die Hoffnungen erlöschen und so lässt man Trauer zu. Ich merke den Schmerz, den sein Verlust verursacht hat, immer noch sehr, aber ich spüre ihn nicht mehr 24/7. Ich liebe meinen Papa immer noch so wie zu den Zeiten, als er noch lebte, jedoch blicke ich mit einem weinenden aber auch mit einem lächelnden Auge auf die Zeiten zurück, als er noch lebte. Das weinende Auge, weil ich ihn vermisse. Das lächelnde Auge, weil ich ihn irgendwann wiedersehe und ich ihn immer in meinem Herzen trage. Ich weinte nicht, weil ich traurig darüber war, dass unsere alte Familie so aufgelöst wurde. Nein, ich weinte, weil ich nicht immer stark sein wollte und meine Gefühle nicht verstecken wollte, denn es ist schließlich okay zu weinen. Ich hatte Angst. Angst davor meinen Papa zu vergessen oder meinen Papa durch Jürgen zu ersetzen. Ich hatte auch unfassbar Angst davor, dass ich mich alleine oder vernachlässigt fühlen werde, weil alle anderen zu sehr mit sich selbst oder anderen Menschen beschäftigt sind. Ich hatte einfach Angst vor meiner Zukunft, da mir diese sehr ungewiss erschien. Während ich all diese tiefgründigen Gedanken spann, wurde mir klar, dass ich vor dem Tor des Friedhofs stand, in welchem mein Vater begraben worden ist. Wenn ich nicht so aufgelöst und in einer anderen Situation gewesen wäre, hätte ich es sicherlich nicht gewagt, das Tor zu öffnen und den Friedhof zu betreten. Aber ich war emotional ziemlich am Ende und ich war in einer solchen Situation. Also öffnete ich das Tor und betrat den Friedhof. Ich machte mich auf den Weg zu seinem Grab, aber da ich seit seiner Beerdigung nicht mehr hier gewesen bin, da ich mich nicht bereit dazu fühlte, fand ich den Weg zwar nicht sofort, aber letztendlich fand ich den richtigen Weg. Als ich das Grab erblickte, entfuhr mir ein Schluchzer. Meine Gefühle überrannten mich, aber dann kostete es mich zu viel Kraft meine Gefühle zu unterdrücken, also ließ ich ihnen freien Lauf. Ich weinte und weinte, aber da ich seinen Tod mittlerweile mehr oder weniger akzeptiert hatte, fühlte ich mich ihm sehr nah und war froh, dass ich den langen Weg der Trauer schließlich bewältigt hatte. Ich versuchte ab jetzt einfach positiv zu denken und dankbar für mein Leben zu sein. Auch wenn das Leben ein hinterhältiges Miststück ist und uns die besten Menschen nimmt, sollte man es einfach hinnehmen, das Beste draus machen und sich durchkämpfen, so wie das eine Spermium, das den Kampf gegen die anderen Spermien gewann, das sich so zur Eizelle durchkämpfte und so für unsere Entstehung verantwortlich war. Ich bin dankbar für die Willenskraft des Spermiums, die einen großen Teil meiner Entstehung beigetragen hat. Ich bin nicht nur dankbar für das Spermium, sondern auch dankbar für meine Familie, meine Freunde und das Leben im Allgemeinen. Ach Leben, auch wenn du manchmal deine Tage hast und dann sehr launisch bist, bin ich sehr dankbar für dich. Denn sonst hätte ich dies hier alles nicht erlebt und würde jetzt nicht hier sitzen.

0816 (vorher Karma, Schicksal oder doch nur Zufall?)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt