Kapitel 6

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Die Zugfahrt verlief relativ ruhig. Außer dem freundlichen Kartenkontrolleur sprach uns niemand an und trotzdem waren wir unsagbar nervös und aufgekratzt. An jeder Haltestelle suchte Alec gründlich durch die Fenster nach anderen Fluctus, jedes Mal konnte er mir Entwarnung geben. Aber wir dachten beide dasselbe: Das Auftauchen von Alecs Mitstreiterin war vermutlich kein Zufall gewesen. Ihre Seite musste zumindest Zweifel an der Loyalität meines Ziehvaters haben und dass sie mich nicht gesehen hatte, war bloß riesiges Glück gewesen.

Wir wechselten den Zug zweimal, das erste Mal an einem riesigen, vollgestopften Bahnhof und das zweite Mal in einer ärmlichen Ortschaft, an der gegenüber der Station auf einer Wiese Schafe grasten und uns nur unbeeindruckt beobachteten, als wir ausstiegen. "Die nächste Bahn kommt in... ungefähr zwanzig Minuten", murmelte Alec, der einen selbstgeschriebenen Fahrplan in seinen Händen hielt und sich kurz umschaute, "Das ist dann der letzte für unsere Strecke. Danach wird gewandert. Kannst du noch, Nat?"

Ich nickte tapfer, aber in Wahrheit war ich bereits ziemlich müde. Seit wir gestartet sind, waren Stunden vergangen und die Kombination aus anhaltender Angst und zum Nichtstun verdammt zu sein tat mir nicht gut. Ständig war ich gegen Alecs Schulter gesackt und wieder hochgeschreckt wenn ich bemerkte, wie meine Aufmerksamkeit schwand. Ich hoffte nur, es würde besser werden, sobald ich mich mehr bewegen konnte...

Mein Magen knurrte plötzlich und erinnerte mich daran, dass ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Vor lauter Anspannung hätte ich sicher auch keinen Bissen herunter bekommen, aber jetzt überkam mich doch der Hunger. Alec lächelte als er das hörte. "Nutz die Pause ruhig und iss was. Das letzte Stück wird nochmal zerrig. Vielleicht müssen wir sogar sofort einen Ort für das Zelt suchen, wenn es zu schnell dunkel wird."

Ich nickte und betrachtete mir unsere Vorräte skeptisch. Wir hatten nicht besonders viel im Haus gehabt, das nicht zuerst zubereitet werden musste, bloß ein wenig Obst und Gemüse, zwei Brötchen und ein paar Müsliriegel. Eine Weile musste das für uns reichen, wer wusste schon genau, wann wir den nächsten Supermarkt fanden? Wir sollten sparsam mit dem umgehen, was wir hatten!

Nach kurzem Überlegen nahm ich mir die kleinste Birne und fragte: "Was willst du, Alec?"

Alecs Augenbrauen verengten sich ein winziges Stück. "Ich brauch noch nichts", behauptete er, "Vielleicht nachdem wir das Zelt aufgebaut haben!"

Oh nein, nein nein nein! So nicht, Alec war schon deutlich länger auf den Beinen als ich! Außerdem passte er pausenlos auf mich, unsere Umgebung und unseren Weg auf und war unsere einzige Verteidigung im Falle, dass uns jemand angriff. Er musste mehr essen als ich, er war das wichtigste Mitglied unserer Gruppe! Ohne lang zu zögern nahm ich noch die größte Birne aus meinem Rucksack und hielt sie ihm hin: "Bitte iss jetzt was!"

"Wir tauschen, okay?", bot Alec mit einem Blick auf meinen Anteil hin an und ich wollte erst protestieren. Für ihn war meine Portion nur ein winziger Happen und würde ihm kaum etwas bringen, aber ich erwiderte stattdessen: "Nur wenn du nach dem Zeltaufbau noch etwas nimmst! Du musst fit bleiben, wenn du schlapp machst, bin ich völlig verloren."

Mein Kumpel überlegte und nickte schließlich geschlagen. "Okay. So machen wir es."

Wir aßen rasch und still und nach weiteren zehn Minuten sahen wir den Zug in der Ferne heranfahren. Niemand außer uns stieg ein, kaum jemand saß in unserem Abteil und offenbar auch niemand, den Alec kannte. Zum ersten Mal heute gelang es mir, die Anspannung beinahe vollkommen abzulegen. Wenn hier auch kein anderer Fluctus mehr war, mussten wir wohl sicher sein...

Mein Nachbar knuffte mich leicht und ich schreckte hoch. Hm, war ich doch noch eingeschlafen? Tatsache, draußen wurde es schon dunkel... Müde löste ich mich von Alecs Schulter, gegen die ich wieder gesunken war und schaute ihn fragend an. "Wir sind gleich da", erklärte er mir entschuldigend und keine Minute später bestätigte ihn auch die Zugdurchsage nochmal. Ich murmelte ein Dankeschön, streckte mich mit einem Gähnen und spürte Schuldbewusstsein in mir aufsteigen. Hätte Alec nicht aufgepasst, wären wir noch ewig weiter gefahren und hätten unseren Stopp verpasst. Er war schon viel länger wach als ich und ein schlafender Sitznachbar konnte auch nicht gerade zu seiner Aufmerksamkeit beigetragen haben, eher im Gegenteil. Ich ärgerte mich über mich selbst. In zwei Jahren galt ich als erwachsen, aber benehmen tat ich mich nicht im geringsten so. Ich sollte mehr Verantwortung übernehmen können! Ich durfte nicht träumen und alles meinem Kumpel überlassen, es ging schließlich um meine Sicherheit und Alec brauchte auch mal eine Pause... Okay, ab jetzt würde ich versuchen, mich mehr zusammenzureißen!

Der kleine Bahnhof an dem wir ausstiegen war noch stärker heruntergekommen als der letzte. Es gab nur ein Gleis und einen mit Schotter angedeuteten Bahnsteig, gegenüber lagerten auf einer Lichtung mehrere Stapel mit Baumstämmen in allen Größen und Längen. Anstatt des riesigen Gebäudekomplexes aus unserer Heimatstadt gab es hier nur ein winziges, heruntergekommenes Gebäude in unmittelbarer Nähe, dessen Scheiben zersprungen waren. An die Wände hatten Jugendliche außerdem mit Spraydosen mehrere hundert ineinander verschachtelte und sich überlappende Graffiti gemalt. Ein richtiges Kaff, bestimmt kamen hier nur selten Züge an. Aber wir schienen richtig zu sein, denn Alec schulterte entschlossen seinen Rucksack und schaute sich aufmerksam um. "Okay, wir haben knapp eine Stunde Zeit. Kannst du noch ein wenig wandern Nat?"

Ich nickte. Im Laufen wurde ich bestimmt wieder munterer und gegen die Auswirkungen des langen Sitzens würde es auch helfen! "Sehr gut. Wir müssen ein Stück durch den Ort und dann in den Wald, dort suchen wir uns einen Platz um das Zelt aufzubauen", erklärte mein Kumpel und ich staunte einmal mehr, wie gut seine Orientierung doch war. Er besaß keine Karte und kein anderes Navigationsgerät und marschierte dennoch zielsicher in eine Richtung los. Vielleicht hatte es etwas mit seinen Kräften zu tun, aber ich bewunderte ihn nichtsdestotrotz dafür. Es ließ ihn sehr verantwortungsbewusst und selbstsicher wirken. Wie von ihm angekündigt erreichten wir nach wenigen hundert Metern Trampelpfad durch ein schmales Waldstück ein Dorf, durchquerten es entlang der Hauptstraße und verließen sie direkt hinter dem Ortsausgangsschild auch schon wieder für einen ausgewaschenen Erdweg, der uns sanft bergauf und weg von der Siedlung führte. Kurz bevor uns der Wald verschluckte, drehte ich mich nochmal um und blickte über die Dächer hinweg. Es war immer noch so seltsam wenn ich daran dachte, aber dies war der Abschied von dem Leben, das ich sechzehn Jahre lang gekannt hatte. Ab jetzt würde nichts mehr so sein wie bisher, unsere Zukunft war ungewiss und jeder Fehler konnte fatale Folgen haben. Jetzt waren wir offiziell auf der Flucht.

Wenige Sekunden schaute ich noch sehnsüchtig auf die Häuser und stellte mir vor, einfach mit Alec hier bleiben zu können, dann schüttelte ich meinen Kopf und joggte eilig meinem Ziehvater hinterher. Wir mussten heute noch so viel Strecke wie möglich machen!

Die Geschichte von Feuer und WasserWo Geschichten leben. Entdecke jetzt