Kontrollverlust

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Verwirrt sah ich Mark an, der etwas gehetzt wirkte und sich noch weiter in die Ecke drängte.
„Hallo Mark, ja wir haben schon lang nicht mehr miteinander gesprochen.“, meinte ich und sah wie Jörn wieder etwas verunsichert dreinschaute.
„Ach ja Jörn, das ist Mark, er…“, fing ich an, den blonden Mann neben mir vorzustellen.
„Ich bin die Erstbesetzung vom Tod.“, wurde ich von Mark unterbrochen, der Jörn die Hand reichte und ihn etwas abschätzig musterte. „Und wer bist du?“, fragte er mit hochnäsigem Ton nach.
„Ähm, ich bin Jörn, ich spiele die Zweitbesetzung vom Franz-Joseph.“, stellte sich nun Jörn etwas verwirrt vor, er wusste wohl nicht so recht, was er von Mark halten sollte.
„Himmelherrgott! Du bist ja genauso jung wie der andere, wie hieß er noch gleich, irgendwas mit Frank? Seit wann kauft die VBW denn direkt an der Uni ein, unglaublich sowas.“, ließ Mark uns an seiner Meinung teilhaben.
„Du meinst bestimmt Franziskus. Nur weil sie gerade von der Uni kommen, heißt das doch noch lange nicht, dass sie schlechter sind als andere.“, versuchte ich Mark von seinen Vorurteilen abzubringen.
Jörn lächelte mir dankbar zu und schaute dann wieder abwartend zu Mark.
„Wir werden es ja sehen. Du warst immer schon so, dass du in allem nur etwas Gutes sehen wolltest.“, behauptete Mark und lächelte mich mitleidig an.
Langsam war ich etwas genervt. Auch wenn mein Herz noch immer schneller schlug, wenn er in der Nähe war, wollte ich mich trotzdem nicht andauernd von ihm beleidigen lassen.
„Brauchst du eigentlich irgendwas, oder bist du nur hier um Jörn und mich zu beleidigen?“, fragte ich ihn mit bissiger Stimme.
„Ich wollte mich doch nur mal wieder mit dir unterhalten, wir sind doch Freunde, oder nicht?“, behauptete Mark und sah mich fragend an.
„Wenn du das sagst.“, murmelte ich und versuchte meinen Puls zu beruhigen, der wieder einmal in die Höhe geschossen war. Mittlerweile sah Jörn zwischen Mark und mir verwirrt hin und her, er fand diese Situation wohl auch sehr seltsam.
„Hey, ist das da hinten nicht Emma?“, fragte ich Mark überrascht, als ich am anderen Ende des Raumes eine schwarzhaarige Frau erblickte.
Sofort drückte sich Mark gegen die Mauer und sah mich böse an.
„Ich wusste gar nicht, dass sie bei Elisabeth mitspielt.“, sagte ich überrascht. „Das muss sicher toll für dich sein.“, fügte ich noch mit bitterem Unterton dazu.
Emma war schon seit längerem mit Mark zusammen und ich musste während der Tour Produktion dabei zusehen, wie Mark ihr seine Zunge in den Hals steckte. Ich hatte immer versucht ihnen auszuweichen, wenn sie zusammen waren, es tat einfach zu sehr weh.
„Emma und ich sind nicht mehr zusammen.“, erklärte mir Mark trocken. „Sie ist aber leider noch nicht so ganz über mich weg. Ist aber klar, dass sie mir hinterher trauert.“, fuhr Mark fort und grinste wie immer dämlich.
„Wie kommt’s denn, dass ihr euch getrennt habt? Ihr wart doch so ein süßes Paar.“, fragte ich grinsend. Wenn er sich schon hier vor Emma versteckte, konnte ich es wenigstens ausnutzen und meinen Spaß haben.
„Die Fitnesstrainerin auf den Malediven war einfach zu süß. Ach du hättest sie sehen sollen, leuchtend blaue Augen, wunderschöne blonde Haare und richtige Brüste. Dagegen ist Emma gar nichts, da wärst sogar du schwach geworden.“, schwärmte mir Mark vor.
„Sicher doch, wer würde das denn nicht? Was ist schon die Frau mit der man über mehrere Jahre zusammen war gegen eine vollbusige Fitnesstrainerin?“, sagte ich, kniff die Augen zusammen und sah Mark mit scharfem Blick an. Das war genau das Verhalten, welches ihn so unsympathisch machte.
„Und wo ist diese Frau jetzt?“, brachte sich Jörn unsicher in die Diskussion ein.
„Was weiß ich? Noch immer auf den Malediven würde ich sagen.“, meinte Mark mit wegwerfender Handbewegung.
„Aber die neue Empfangsdame ist echt süß.“, verkündete Mark und grinste Jörn an. Dieser sah etwas geschockt aus und wusste wohl nicht, ob Mark einen Scherz machte.
Jörn wollte gerade etwas sagen, als Mieke plötzlich wieder vor uns stand.
„Hier bist du also Mark! Emma fragt nach dir, sie will mit dir reden.“, platzte Mieke heraus.
„Schön für sie. Ich will aber nicht reden, für mich ist alles geklärt. Wo ist sie denn?“, fragte Mark und schaute gehetzt hinter Mieke.
„Sie ist da hinten.“, meinte Mieke und deutete in den Raum. „Aber Mark, was du da machst ist sehr unreif und du solltest ihr wenigstens…“, fing Mieke tadelnd an, doch Mark verschwand schon gebückt in die entgegengesetzte Richtung, in die Mieke vorher gedeutet hatte.
„Mark!“, rief Mieke ihm noch empört hinterher und stemmte die Hände in die Hüfte.
„Dieser Mann ist unglaublich. Manchmal frage ich mich echt, warum ich überhaupt mit ihm befreundet bin.“, murmelte Mieke und schüttelte den Kopf.
Als Mieke Jörns Gesichtsausdruck sah, lachte sie und sagte: „Jetzt hast du sicher ein tolles Bild von unserem Mister Selbstverliebt, oder? Aber glaub mir, so schlimm ist er gar nicht. Nicht immer. Er kann auch echt nett sein!“
Ich schnaubte und Mieke sah mich böse an.
„Er kann nett sein!“, bestand Mieke und ich nickte nur, um keinen Streit anzufangen.
„Alle mal hergehört! Es freut mich, dass ihr euch alle schon so gut versteht, aber es wird jetzt echt Zeit mit den Proben zu beginnen!“, meldete sich Martin, einer der Organisatoren, der in der Mitte des Raumes stand.
„Wir beginnen einmal mit den Duetten! Mark und Annemieke bitte in den Probenraum 3.“, fing er an seine Liste herunter zu arbeiten.
Langsam leerte sich der Raum und es blieben nur noch eine Hand voll Leute zurück.
„Zum Schluss noch Oliver und Jörn-Felix in Probenraum 2 bitte. Der Rest hat Glück gehabt und kann sich noch etwas ausrasten.“, beendete Martin und verschwand wieder mit schnellem Schritt aus dem Raum.
„Du hast keine Ahnung wo du hin musst, oder?“, fragte ich Jörn, der etwas verloren im Raum stand und sich wohl etwas unbehaglich fühlte.
„Nicht wirklich.“, gestand er und fing an auf seiner Unterlippe zu kauen.
„Ist auch echt fies, dass es hier keinen Lageplan gibt und von jedem erwartet wird sich hier auszukennen.“, meinte ich und Jörn nickte zustimmend.
„Komm ich zeig dir wo wir hin müssen.“, bot ich ihm an und wir verließen zusammen den Raum.
Während ich Jörn durch verschiedene Gänge führte, gab er keinen Laut von sich. Prinzipiell sah er immer ziemlich ernst, wenn nicht sogar deprimiert aus, was mich sehr wunderte, da die meisten neuen Darsteller am ersten Probentag immer mit dem größten Grinser der Weltgeschichte durch die Gegend liefen.
Als ich Jörn die Tür zu unserem Probenraum aufhielt, schenkte er mir ein kleines Lächeln.
„Hallo! Ihr seid Herr Arno und Herr Alt, nehme ich mal an.“, begrüßte uns ein gestresst wirkender Mann.
„Ja.“, bestätigte ich.
„Sehr schön. Eure Texte könnt ihr?“, fragte er und sah uns abwartend an.
Jörn und ich nickten wie auf Kommando und der Mann sprach weiter: „Gut. Was wir heute machen ist nicht sonderlich kompliziert. Wir werden in  der nächsten Stunde die Szene ‚Rudolf ich bin außer mir‘ proben. Sie ist nicht sonderlich lang, aber es gibt ein paar Details, die zu beachten sind.“
Der Mann erklärte uns, wo wir zu stehen hatten und was genau wir tuen sollten. Das ganze war für mich nichts neues, da ich den Rudolf schon in anderen Produktionen zuvor gespielt hatte.
Nachdem uns jeder Handgriff erklärt wurde, durften wir endlich unsere Positionen einnehmen und die Szene durchspielen.
Die Musik erklang und Jörn begann zu singen. Er hatte eine unglaublich schöne Stimme, ich hätte ihm echt ewig zuhören können.
Fast hätte ich meinen Einsatz verpasst, da ich von Jörns Stimme so gefesselt war.
Nachdem wir das Lied durchhatten, wurden wir auf unsere Fehler hingewiesen und das ganze begann wieder von neuem.
Als wir nach einer Stunde immer und immer wieder die gleiche Szene gespielt hatten, meinte der Mann, wir sollen jetzt gehen, da gleich die Nächsten kommen würden, um ihre Szenen durchzuspielen.
„Kommst du noch mit in die Cafeteria?“, fragte ich Jörn, als wir beide wieder im leeren Gang standen.
Er überlegte kurz und nickte dann.

Ich ließ mich gegenüber von Jörn fallen und richtete meinen Blick auf ihn. Er sah seine Kaffeebecher an und drehte ihn langsam im Kreis. Nachdem er nach einer Minute noch immer nichts gesagt hatte, fragte ich ihn besorgt: „Ist bei dir alles okay, Jörn? Geht es dir nicht gut?“
Er sah überrascht auf und meinte: „Äh, nein, also ich bin vollauf gesund. Ich hab nur… nachgedacht.“
Am liebsten hätte ich ihm angeboten mir alles zu erzählen, doch dafür kannten wir uns eindeutig zu wenig. Trotzdem wollte ich unbedingt wissen, was Jörn so sehr bedrückte.
„Private Probleme oder hat dich die Depression der Kaiserin jetzt schon angesteckt?“, fragte ich und lächelte ihn an.
Er grinste und meinte: „Schön wär’s. Die Kaiserin ist wohl nicht schuld, aber Depression trifft es recht gut.“
„Wenn du mal niemanden, zum reden hast… ich hab für alles ein offenes Ohr.“, platzte es aus mir heraus und ich biss mir auf die Zunge.
Verdammt! Was war heute nur los mit mir?
„Danke.“, meinte Jörn und lächelte mich aufrichtig an. Ich atmete beruhigt aus, wenigstens hatte ich ihn nicht vollends mit meiner Überfreundlichkeit vergrault.
„Es ist gut zu wissen, dass jemand da ist der einem zuhört. Viele Leute kenn ich ja noch nicht in Wien…“, sagte Jörn und sah wieder auf seinen Becher.
„Ich versteh dich. Es ist echt blöd niemanden in der Stadt zu kennen. Falls du dich mal ablenken willst, von was auch immer, kannst du mich gerne anrufen, dann machen wir irgendwas.“, sprudelte es schon wieder aus mir heraus.
Am liebsten hätte ich mich selbst geschlagen, aber ich wollte Jörn nicht noch mehr verstören. Langsam zweifelte ich daran, ob ich noch volle Kontrolle über meinen Körper hatte.
„Klingt gut. Ich kenne mich hier sowieso kaum aus, da wäre es gut mit jemandem Zeit zu verbringen, der nicht vollkommen orientierungslos ist. Heute in der Früh habe ich eine halbe Stunde gebraucht, um zu der U-Bahn zu finden.“, erzählte mir Jörn und ich hing förmlich an seinen Lippen.
Als er aufgehört hatte zu reden, nahm er sein Handy in die Hand und reichte es mir. Zuerst sah ich irritiert darauf und fragte mich, was ich damit jetzt tun sollte. Da fiel mir mein voriges Angebot wieder ein und ich tippte schnell meine Nummer in  sein Telefon.
Ungeschickt fischte ich auch mein Handy aus der Hosentasche und reichte es Jörn.
Nachdem er es mir zurückgegeben hatte, sah er mich an und ich überlegte fieberhaft, was ich jetzt sagen sollte.
Da mir nichts Besseres einfiel, fragte ich ihn kurzerhand nach seiner vorigen Produktion.
Ich beobachtete ihn dabei, wie er redete und drehte mein Handy nervös in meiner Hand hin und her.

Als ich an diesem Abend in meinem Bett lag und mich von einer Seite auf die andere wälzte, da ich einfach keinen Schlaf fand zog ich mein Handy heraus.
Es war noch immer Jörns Profil offen und ich starrte auf das Anrufzeichen. Ich bekam ein komisches Gefühl und legte das Handy schnell wieder weg.
Wohin das noch alles führen würde, wollte ich gar nicht wissen.

Jedes Blatt hat zwei Seiten (BoyxBoy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt