In der Kenntnis seines Namens liegt der Schlüssel zur Identität.
Die Sonne fiel mir ins Gesicht. Ich kniff die Augen zu und vergrub meinen Kopf im Kissen. Im ersten Moment nach dem Aufwachen hatte ich nicht gewusst, warum ich mich so elend fühlte, doch nun kamen die Erinnerungen an die Namensgebung gestern mit aller Kraft zurück und verhöhnten mich. Wie hatte ich auch glauben können, dass sich durch meine Namensgebung irgendetwas zum Besseren verändern würde?
Ich wusste zwar, dass mir Selbstmitleid nichts brachte, aber ich konnte nichts dagegen tun. Seit zwölf Jahren, seit meinem sechsten Lebensjahr, seit ich begreifen konnte, was ein Name war, hatte ich davon geträumt, ein großer Name zu sein. Ich hatte meiner Namensgebung entgegengefiebert und der Traum hatte mir die Kraft gegeben, alles andere als unwichtig abzutun, wenn mich meine Klassenkameraden oder die anderen Nummern wieder einmal gedemütigt hatten. Und nun hatte sich dieser Traum in Luft aufgelöst und verhöhnte mich. Ich hatte einen zweiteiligen Namen, doch dieser war noch schlimmer als ein drei- oder vierteiliger Name, denn niemand kannte ihn.
Ich setzte mich auf, als mir plötzlich ein Gedanke kam. Niemand im Saal hatte ihn gekannt, aber das hieß nicht, dass niemand meinen Namen kannte!
Ich beeilte mich mit dem Anziehen, als ich in eine meiner Schuluniformen schlüpfte. Ich hätte auch meine Freizeitkleidung tragen können, aber die wollte ich mir lieber für meine Reise aufsparen.
Es war ungewöhnlich still für einen frühen Morgen, als ich durch die Schule eilte. Meine früheren Klassenkameraden nutzten, wie die Nummern, die heute schulfrei hatten, den Tag zum Ausschlafen. Wo sonst hunderte Schüler lachten, schrien und polterten, herrschte an diesem Morgen eine fast schon gespenstische Stille.
Zehn Minuten später kam ich schnaufend am Gebäude der Schulbibliothek an. Das Eingangstor war geschlossen – es war schließlich schulfrei -, aber ich wusste, wie ich dennoch hineinkommen konnte. Ich ging um die Ecke zu einem kleinen Nebeneingang und zog an der Glocke.
Das metallische Geräusch erschien mir laut in der morgendlichen Stille und ich musste noch ein zweites Mal läuten, bevor ich drinnen Schritte hörte. Dann wurde die Tür einen Spalt aufgerissen und ein wütendes Gesicht starrte mich an. Gerunder Falios Ellutor war achtundzwanzig Jahre - und damit zehn Jahre älter als ich - und bekanntermaßen kein Frühaufsteher. Ich wusste das, aber ich wusste auch, dass hinter seiner brummigen Fassade ein netter Kerl steckte.
„Darf ich reinkommen, Gerunder?“, fragte ich.
„Nummer 19?“, sagte er überrascht. „Was machst du hier? War gestern nicht deine Namensgebung? Warst du denn nicht feiern, wie die anderen?“
Ich schnaubte unwirsch. Erstens hatte ich nun wahrlich nichts zu feiern gehabt und zweitens konnte nicht einmal eine Namensgebung dafür sorgen, dass meine Klassenkameraden zusammen mit mir feiern wollten. Ich war der einzige gewesen, der nicht mit den anderen abends in die Stadt gegangen war, um sich zum ersten Mal ordentlich zu betrinken.
„Mein Name ist Tirasan Passario – und das ist mein Problem“, erklärte ich ihm und seufzte.
„Komm rein.“ Gerunder öffnete die Tür einen Spalt weiter und trat beiseite, damit ich hineinschlüpfen konnte. Danach schloss er die Tür sofort und zog seinen Morgenmantel enger um sich. Anscheinend hatte ich ihn geweckt.
„Kannst du Frühstück machen, während ich mich anziehe?“, fragte mein Freund und gähnte. „Ich brauche dringend etwas Starkes zu trinken, wenn ich wach werden soll.“
„Klar, mach ich“, sagte ich und ging in die Küche, während Gerunder die Treppe hinauf ging und in seinem Schlafzimmer verschwand. Ich hatte Gerunder so oft besucht, dass ich mich in seiner Küche genauso gut auskannte wie in meinem eigenen Zimmer. Ich nahm zwei Tassen aus dem Schrank, holte den Wasserkessel, befüllte ihn mit Wasser und setzte ihn dann auf den Herd. Während das Wasser heiß wurde, öffnete ich die Schublade, holte zwei Löffel heraus und wählte den Tee aus. Für Gerunder einen starken und für mich einen Früchtetee. Der Zucker stand schon auf dem Tisch, so dass ich mich nun ans Tischdecken machte und Brot und Käse aus der Speisekammer holte.
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Die Magie der Namen
FantasyIn einer Welt, wo nur der Name darüber bestimmt, wer du bist, welchen Beruf du ausübst, ob du Vermögen hast und zu welcher Dynastie du gehörst, ist der Name Macht und Magie zugleich. Der Außenseiter Nummer 19 aus dem kleinen Ort Tummersberg träumt d...