Kapitel 9: Seestadt

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„Und daher erklären wir folgende Taten zu den verabscheuungswürdigsten Verbrechen, die wir mit dem Verlust des Namens bestrafen werden: Einen falschen Namen tragen, sein Wappen fälschen, sich selbst einen Namen geben oder seinen Namen ändern, einer Nummer vor der Namensgebung einen Namen geben, einem Tier einen Namen geben und der Mord an einem großen Namen oder an einem Kind.“ (Paragraph 2 aus dem Gesetzbuch von Mirabortas)

„Noch mal, Tir!“

„Warte es nur ab, bald bin ich besser als du!“, rief ich Rustan lachend zu, als ich mein Wurfmesser wieder aus dem Baum zog.

Es war Nachmittag an unserem dritten Reisetag von Holzstadt nach Seestadt und Rustan, Nelia und ich nutzten die Rast, um das Messerwerfen zu üben. Nach unserem ersten Training hatten die jungen Frauen überraschend auch Interesse an unseren Kampfübungen gezeigt, so dass Rustan nun abwechselnd mich und Nelia trainierte. Allira hatte schnell das Interesse an den Übungen wieder verloren, als sie sich versehentlich an einem Wurfmesser geschnitten hatte. Baro hingegen schien Wurfmesser nicht als Waffen zu betrachten, denn er zeigte nur Interesse, wenn Rustan mit seinem Schwert oder seiner Armbrust trainierte, und ließ sich dann ein paar Tricks zeigen.

Inzwischen war ich sogar richtig gut, wenn man bedachte, dass ich vor einer Woche noch nicht einmal die Zielscheibe aus zehn Meter Entfernung getroffen hatte. Aber ich war nicht so gut wie Nelia, die nach zwei Tagen Training den Bogen raus hatte und nun jedes Mal den Baum traf, den wir uns zum Üben auserkoren hatten.

„Wir müssen weiter, Leute!“, ermahnte uns Baro überraschend nachsichtig. „Ich würde gerne heute Nacht mal nicht in einem Zelt, sondern in einem richtigen Bett schlafen.“

Ich seufzte bei der Vorstellung. Ein Bett, das wäre wirklich schön. Auch wenn wir inzwischen bereits eine Woche unterwegs waren, hatte ich mich noch immer nicht an die unbequemen Nachtlager gewöhnt. Da es Allira und Nelia ähnlich ging, hatten wir beschlossen, dass wir uns in Seestadt eine Nacht in Luxus gönnen und uns ein billiges Gasthaus suchen würden.

Zum Glück war Seestadt nicht mehr weit entfernt. In der Ferne konnten wir bereits die Dächer der Häuser sehen und zu unserer Linken sahen wir alle paar Minuten das Haus eines Kesuas, das mit seinem Bootsanleger in den Kromba-See hineinragte.

Seit dem Morgen war der See nie weit von der Straße entfernt und ich hatte festgestellt, dass mir der Anblick des glitzernden Wassers in der Sonne und der Geruch nach See und Seegras gefielen. Ob ich wohl später einmal in der Nähe eines Sees oder des Meeres leben würde?

Ich war in den letzten Tagen zum echten Grübler geworden. Früher hatte ich nie über den Tag der Namensgebung hinaus, an dem ich ein großer Name und Held hätte werden sollen, gedacht und geplant. Doch nun begann ich die ersten Pläne für mein Leben als Tirasan Passario zu machen. Ich wusste zwar immer noch nicht, wer ich war, aber seit Rustan und ich festgestellt hatten, dass ich ein Talent fürs Geschichtenerzählen hatte, war ich ein eifriger Anhänger des Tagebuchs geworden, wo ich abends die wichtigsten Ereignisse des Tages und meine Beobachtungen zu Rustan, Nelia, Allira und Baro festhielt. Vielleicht würde ich irgendwann einmal die Heldentaten von großen Namen im Auftrag des großen Namenarchivs von Himmelstor dokumentieren.

Durch meine Grübeleien hätte ich beinahe nicht mitbekommen, dass wir den äußeren Rand von Seestadt erreicht hatten, doch Alliras Ausrufe der Begeisterung rissen mich aus meinen Gedanken.

Seestadt war … gewaltig. Während Tummersberg nur knapp siebentausend Einwohner und Holzstadt auch nicht viel mehr gehabt hatte, so war Seestadt gut und gerne dreimal so groß. Ich hatte zwar gewusst, dass Seestadt über zwanzigtausend Einwohner hatte, aber was das bedeutete, war mir nicht klar gewesen. Seestadt erstreckte sich über Kilometer entlang des Kromba-Sees.

Die Magie der NamenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt