Umzug

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Aileen:


"Die letzten Kisten kommen in den Nebenraum, rechts hinter dem Eingang."

Aileen war geschafft.  Seit Wochen hatte sie Kisten voller Zeug gepackt, sich von Sachen getrennt und nicht nur äußerlich einen Schlussstrich unter einige Dinge gezogen. Der Tod ihrer Großmutter war nicht unerwartet gekommen, trotzdem fehlte sie ihr schmerzlich. Sie war ihr einziger Bezugspunkt gewesen, nachdem ihre Eltern verschwunden waren. 

Aileen war damals erst zwölf Jahre alt und ihre Eltern verschwanden in den Sommerferien, während Aileen bei ihrer Großmutter war. Die beiden wollten einen kurzen Trip in die Berge machen und kamen nicht wieder. Der Campingwagen wurde relativ schnell gefunden, ebenso das Handy ihrer Mutter, mitten in den Bergen. Aber ihre Eltern waren verschwunden. In der Nacht zuvor hatte sie seltsame Träume gehabt und war zu ihrer Großmutter ins Bett geklettert. 

"Träume wollen dir etwas mitteilen, Aileen."

"Aber sie waren schrecklich. Sie haben mir große Angst eingejagt."

Irgendwann verstand Aileen, dass nicht nur ihre Träume ihr etwas mitteilen wollten. Sie hatte auf die seltsamsten Fragen ihrer Mitschüler  Antworten parat und wusste Dinge über andere, die sie nicht wissen konnte. Das machte sie zur Außenseiterin. Ihre Antworten trafen dort, wo der Schmerz lag und das gefiel niemanden. Sie war den Leuten unheimlich und Aileen verstand es sogar. 

Damals blieb sie bei ihrer Großmutter und ging in dem Nachbardorf zur Schule. Später, nach ihrem Schulabschluss verließ sie das Dorf und ging in die Stadt, um eine kaufmännische Ausbildung zu machen. Doch das Interesse an ihren Träumen blieb. Sie sog alles Wissen auf, das sie finden konnte. Steine, Tarot, Astrologie, Traumdeutung.  Und mit ihren mittlerweile vierundzwanzig Jahren hatte sie sich ein breites Wissensspektrum um die verschiedensten spirituellen Dinge zusammengetragen. Dabei blieb sie der begleitenden Beratung immer treu. Es erfreute sie, Menschen dabei zu unterstützen, aus ihren persönlichen Zwickmühlen herauszufinden.

Ihre Kollegen in der Kanzlei, in der Aileen arbeitete, hielten solche Leute für Spinner, also behielt sie diese Interessen für sich. Sie hatte gelernt, ihre Eingebungen nur noch dosiert mitzuteilen. Trotzdem hatte ihre Großmutter sie immer ermutig, ihre Fähigkeiten zu nutzen. Damit sie nicht versehentlich auffiel, suchte Aileen sich im Netz einen Ort zum Ausleben. Es gab Portale für Menschen, die spirituelle Unterstützung suchten und Aileen erarbeitete sich einen treuen Kundenstamm, der ihre Ratschläge gerne aufsuchte. Den Schritt aus ihrem alten Leben traute sie sich jedoch nicht. 

Weil sie dem Chef der Kanzlei eine Ohrfeige verpasste, als er zu aufdringlich wurde, verlor sie ihren Job. Sie hätte sich wehren können und Anzeige erstatten, aber es war eine Erleichterung gewesen, als die Kündigung in ihrem Briefkasten war. Irgendwie würde es schon weitergehen.

Und in der Woche darauf träumte sie von ihrer Großmutter. 

"Ich überlasse dir, alles was ich habe. Geh deinen eigenen Weg, Aileen. Es wird Zeit, dein Erbe anzutreten."

Sie wusste bereits, dass ihre Großmutter verstorben war, als der Bestatter anrief. Und da sie nichts mehr in der Stadt hielt, zog sie kurzerhand in das Haus ihrer Großmutter, welches nun ihr gehörte. Doch der Umzug war kräftezehrender als gedacht. In ihrer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung waren so viele Bücher,  Erinnerungsstücke und Kram, dass sie Tage damit zubrachte, alles zu verpacken. Für den Rest hatte sie sich eine Umzugsfirma angeheuert und war nun, da sie in dem Haus stand, sehr froh darüber. Es würde Wochen dauern, sich einzugewöhnen und es zu ihrem Haus zu machen.

Leseprobe "Aileen Wolf - Erwachen"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt