Träume

3.6K 219 45
                                    

Aileen:


Samuel ging mir nicht aus dem Kopf. Nicht nur, dass ich nicht herausfand, wie er meine Adresse herangekommen war - und das war schon an sich sehr beängstigend. Ich träumte auch noch von ihm. In diesen Träumen folgte ich ihm durch unterirdische Gänge, wo er sich mit anderen Menschen unterhielt. Dort herrschte ein emsiges Treiben. Viele Gesichter wechselten ab, nur eine Person erschien regelmäßiger. Wie konnte es sein, dass Samuel meine Gedanken so in Beschlag nahm?

Und dass mein Telefonanbieter an der Leitung arbeitete, machte es nicht besser. Ich konnte mich nicht einmal mit meinen Kunden ablenken. Wenn ich im Garten arbeitete, fiel mein Blick ständig auf die Terrasse. Es war fast so, als könnte ich ihn immer noch dort sehen und spüren.

Dabei wurde das angespannte Kribbeln mit jedem Tag, der auf den Neumond zuging stärker. Am Anfang meiner Beratungen passierte es mir häufiger, dass ich bei dem Kunden hängen blieb und immer wieder Eindrücke erhielt. Als dieser Opfer einer Schlägerei wurde, konnte ich die Polizei alarmieren und ihm helfen. Seid dem achtete ich darauf, mich nach jeder Sitzung bewusst von dem Kunden zu trennen.  Nur bei Samuel gelang es mir nicht. Alle Übungen, um mich gedanklich von ihm zu trennen, wirkten nicht.  Etwas passierte und es hatte mit der feindlichen Konkurrenz zu tun. Es war immens wichtig, doch ich hatte keine Ahnung, wie ich ihn erreichen sollte. Unter seinem Namen fand ich Dutzende Einträge. 

Da das beklemmende Gefühl immer intensiver wurde, stellte ich mir vor, dass Samuel mich anrief. Die Leitung war mittlerweile wieder frei und mein Internet war schneller als zuvor - deswegen beschwerte ich mich nicht. Da er von meiner Seite auf Spirits wusste, hatte er auch eine Möglichkeit mich zu kontaktieren. Normalerweise nutze ich diese Art der Vorstellung, um mir einen freien Parkplatz zu sichern oder mir vorzustellen, dass ich rechtzeitig zu einem wichtigen Termin kam. Je wichtiger mir etwas wurde, desto unzuverlässiger war das Arbeiten mit der Vorstellung. Aber da ich keinen anderen Weg wusste, versuchte ich es. 

Immer wieder stellte ich mir vor, dass Samuel auf meiner Terrasse saß und mit mir redete. Dieses Bild fiel mir am leichtesten. Neumond kam immer näher und ich hatte alle Termine verschoben, weil ich mich nicht mehr konzentrieren konnte. Ich musste die Leitung frei halten für seinen Anruf. 

Als das Telefon einen Tag vor Neumond klingelte, hob ich ab, noch bevor das erste Klingeln verklungen war.

"Hallo hier ist Samuel."

Ich ließ ihn nicht weiter reden.

"Du musst deinen Plan ändern. Dein Konkurrent weiß Bescheid. Wenn du alles so belässt, wirst du dein Unternehmen verlieren."

"Woher..."

Ich unterbrach ihn erneut. Es war, als wollte eine Meer an Informationen durch einen kleinen Strohhalm fließen und dieser war ich. Mein Körper kribbelte wie unter Strom und es war schwer, mich zu fokussieren.

"Hör zu, ich weiß nicht wieviel du auf Spiritualität gibst. Also hör einfach zu. Seid dem du da warst, sehe ich dich. Ich sehe Dinge, die ich nicht interpretieren kann, doch von Tag zu Tag wurde das Gefühl einen Fehler zu machen stärker. In meiner Verzweiflung habe ich intensiv daran gedacht, dass du mich anrufst, bevor Neumond ist. Auch jetzt sind die Eindrücke so stark, dass ich kaum Beschreiben kann, was ich spüre.

Dein Konkurrent weiß Bescheid. Er weiß, was du vorhast und wie du es vorhast. Er hat sich eine neue Strategie einfallen lassen und wird dir damit alles nehmen."

Es herrschte Stille am Ende der Leitung und ich befürchtete, dass Samuel aufgelegt hat.

"Woher weiß er das?"

"Er hat jemand aus deinem Kreis in der Hand, der ihm diese Information weiter geben musste."

Der Druck in mir stieg und mein Körper fühlte sich wund an. Ich fühlte mich wie ein kleiner Fluss, durch den sich eine Flutwelle drückte. Auf der einen Seite war es ein berauschendes Gefühl und ich sah viele Dinge mit großer Klarheit. Die andere Seite war voller Schmerz, denn mein kleines Flussbett war nicht ausgelegt mit einer solchen Flut klar zukommen.

"Was kann ich tun?"

"Du musst sofort handeln. Niemand darf telefonieren oder sonst wie kommunizieren. Unter keinen Umständen. Sammle deine Kräfte und begib dich zu einer Konstruktion im Wald. Eine Halbkugel, die man in Kreisen bis nach oben gehen kann. Dort wird er sein. Die Unterstützung deines Konkurrenten will dort etwas haben oder tun, womit dich dein Kontrahent bezwingen kann. Sie dürfen es nicht bekommen. Ich weiß nicht genau, was es ist. Aber das ist der Hebelpunkt."

"Beschreib mir bitte, was du siehst. Egal wie seltsam es aussieht."

Verstand er mich wirklich? Mein Kopf begann zu schmerzen und ich zitterte am ganzen Körper. Zum Glück trug ich mein Headset, sonst wäre  mir das Telefon bereits aus den Händen gefallen.

"Lach mich nicht aus, aber es sieht aus wie ein Portal. Es ist noch nicht dort, aber die Unterstützung will es öffnen. Dieses Portal ist einzigartig. Ich weiß nicht warum, aber das ist das passende Wort. Wenn es von deinem Konkurrenten geöffnet wird kommt die Dunkelheit heraus und wird alles verschlingen. Das ist nur ein Bild, aber ich sehe es nicht anders."

"Aileen? Du musst loslassen, Aileen."

"Was meinst du?"

"Du musst die Gabe loslassen. Du überlädst dich. Schon jetzt hast du mehr davon durchgelassen als jemals zuvor. Wenn du dich von dem Strom nicht abtrennst, kannst du ausbrennen."

Woher wusste er, was ich fühlte? Und warum hatte er keine Bedenken zu dem, was ich ihm gesagt hatte?

"Aileen!"

Wieder holte mich seine Stimme zurück. Der Druck im Kopf wurde immer stärker und mein Blickfeld begann zu verschwimmen.

"Ich weiß nicht wie."

Meine Stimme klang rau. Irgendwann war ich wohl auf das Sofa geglitten, ohne es zu registrieren und lag dort. Ich konnte mich nicht bewegen. Jede kleinste Muskelanstrengung sandte Schmerzwellen durch mich hindurch. Seltsamerweise machte es das Brennen erträglicher. Eine Idee grub sich durch mein Hirn.

"Es gibt eine Möglichkeit, aber dazu muss ich auflegen. Und du auch. Die Zeit läuft gegen dich."

Hörte ich da ein Knurren am Ende der Leitung?


"Wenn ich mein Unternehmen gerettet habe, komme ich zu dir."

Ich nickte, obwohl Samuel mich nicht sehen konnte.

"Wenn du es gerettet hast, wird alles gut. Und jetzt los."

Ich legte auf und nahm das Headset ab. Die Bewegung jagte Schmerzen durch mich hindurch, doch dadurch wurde die Flut für einen kurzen Moment schwächer.  Ich kämpfte gegen meinen inneren Widerstand, der lieber die Überflutung als die Tortur ertragen wollte. Mit einem Ruck erhob ich mich. Schmerz durchflutete mich, als ob ich mich am gesamten Körper verbrannt hätte. Doch die Flut hörte auf. Ich war davon getrennt. Ich stand vor meinem Sofa, und wie Welt drehte sich. Ich wollte noch einen Schritt machen, doch als sich meine Muskeln anspannten wurde alles schwarz.




Leseprobe "Aileen Wolf - Erwachen"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt