Observierung

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Samuel:



Eigentlich war ich in den nördlichen Bereich meines Reviers wegen Ben, meiner rechten Hand, gekommen. Er hatte seine Seelenhälfte gewittert und ich konnte sehen, wie sehr er zwischen seiner Loyalität und seiner Suche hin und her gerissen war. Ich freute mich für ihn und was wäre ich für ein Freund, wenn ich ihn davon abhielt, sich komplett zu fühlen. Also waren wir hier, damit Ben die Frau finden konnte, die ihn vervollständigt. Und dann spürte ich das leichte Ziehen in meiner Herzgegend. Ein Zupfen, das mich in eine Richtung lenken wollte. 

Das konnte ich mir jetzt nicht leisten. Ich hatte als junger Werwolf nie nach meiner Seelenhälfte gesucht und hatte es auch nicht als Alpha vor. Mein Rudel und ich beanspruchten den Bayrischen Wald als unser Territorium. Eine große Fläche, in der wir uns noch einigermaßen unbeachtet aufhalten konnten. Die moderne Technik und die Ausbreitung der Menschen reduzierte solche Möglichkeiten und zwischen den Rudeln gab es immer wieder Revierstreitigkeiten. Der Alpha des Sonnenrudels hatte seine gierigen Klauen schon nach meinem ausgestreckt, bevor ich Teil davon wurde, obwohl sein Gebiet viel zu weit von unserem entfernt war. Unser Alpha war bereits älter, doch alle seine Nachkommen waren gestorben, bevor sie seinen Platz hätten einnehmen können. Er förderte und forderte mich und erst als er das Amt an mich abgab, verstand ich den Grund dafür.


Das Rudel wuchs unter meiner Führung. Ich war von Technik fasziniert, ebenso wie die jungen Wölfe und so modernisierte ich. Das Sonnenrudel hatte aber nicht aufgegeben. Jeder meiner Schritte wollte gut überlegt sein und ich musste immer  mit einem Angriff rechnen. Seine Seelenhälfte zu finden machte einen Wolf stärker, aber bis die Bindung stark genug war, eben auch schwächer und Schwäche konnte ich mir nicht leisten.


Trotzdem folgte ich diesem Ziehen. Ich redete mir ein, nur kurz vorbei schauen zu wollen, um zu wissen, wer meine Gefährtin war. Und sie war perfekt. Nur etwas kleiner als ich, sodass wir uns auf Augenhöhe befanden. Ihre Haut war weiß wie Porzellan und erinnerte mich mit diesem zarten Strahlen an die Feen. Vielleicht waren ein paar Feen in ihrer Ahnenreihe. Es war gar nicht so abwegig, dass viele Menschen Feenblut oder Wolfsblut in sich hatten, ohne je davon etwas zu bemerken. Sie hatten sich in den letzten Jahrhunderten erfolgreich davon überzeugt, dass es nichts Übernatürliches gab und alle übernatürlichen Wesen bestärkten die Menschen in diesem Glauben.  Nur langsam gab es Tendenzen in die andere Richtung. Mit ihren dunklen Haaren wirkte sie wie eine Puppe. Schmale Lippen, graue Augen und eine zarte Nase. 

Ich ließ alles über diese Frau herausfinden, was es zu finden gab. Ihr Name war Aileen Wolf. Ich hätte auflachen können über diesen Namen. Ihre Eltern verschwanden als sie zwölf war und sie lebte als Kind bei ihrer Großmutter, die vor kurzem gestorben war. Sie hatte keine reguläre Arbeit, aber sie war spirituelle Beraterin auf Spiritus - die größte Community für Esoteriker, Spirituelle aber auch echte Übernatürliche und hatte dort einen ansehnlichen Kundenstamm. 

Viele Menschen nutzen ihre übernatürlichen Gaben völlig unbewusst und würden diese auch nie für etwas außergewöhnliches halten. Und viele sogenannten Esoteriker und Spirituelle lebten mit der Hoffnung, dass es mehr da draußen gab. Die meisten kannten die Wahrheit nicht. Sie  liebten die Hoffnung und zerbrachen an der Wirklichkeit. Ich musste herausfinden, wieviel Aileen wusste.

Und so fand ich mich an ihrer Gartentür, um Hilfe bittend. Das Grundstück war mit echten Schutzpflanzen umzogen und es hätte mich sehr viel Mühe gekostet, diesen Schutz zu durchbrechen. Deswegen nutze ich die Chance, als Aileen ihr Haus verlassen wollte.

Leseprobe "Aileen Wolf - Erwachen"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt