Ein Rat

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Aileen:


Liebe, Geld, Beruf. 

Es waren immer die gleichen Themen, bei denen die Menschen um Rat ersuchten. Ich begann die Karten zu mischen, während Samuel mich und die Umgebung betrachtete. Er hatte eine starke Präsenz und ich war mir sicher, dass er der alleinige Leiter des Unternehmens war. Es gab Menschen, denen die Leute folgten, egal, was sie von sich gaben. Samuel wirkte auf mich wie so ein Mensch. 

Ich atmete tief ein und aus und öffnete mich den Impulsen, die ich während den Beratungen spüren konnte. 

"Ich bitte Sie, an diesen Konkurrenten zu denken. An die Art und Weise, wie er versucht ihr Unternehmen an sich zu reißen. Was in den letzten Tagen und Wochen zwischen ihnen passiert ist."

Mein Besucher blickte mich mit zusammengekniffenen Augen an. Skepsis. Ich wusste, wie Menschen aussahen, wenn ihnen etwas nicht passte.

"Hören Sie, Samuel. Ich will nichts über ihre Firma oder diese Streitigkeiten wissen. Sie müssen mir auch nichts dazu sagen. Sie sollen lediglich in ihren Gedanken diese Dinge durchgehen. Sie haben mich um Hilfe gebeten. Ich kann nur wertvolle Impulse geben, wenn Sie mitmachen."

Nach einem kurzen Zögern nickte er und ich sah es in seinem abwesenden Blick, dass er in Gedanken war. Ich hoffte, auch dort wo ich ihn hin gebeten hatte. Selbst wenn es so erschien, mit den Karten konnte ich keine Gedanken lesen. Aber ich sah kleine Details, unbewusste Gesten und erkannte viel daran.

Ich konzentrierte mich auf meine Karten und die nächsten vier Wochen. Das war mein Zeitrahmen, in dem ich die besten Antworten fand. Natürlich ging es auch bei längeren Zeiträumen, aber die Aussagen wurden immer ungenauer, je größer der Abstand wurde. Da Samuel nichts dazu gesagt hatte und meine Antworten sonst einfach nur schwammig würden, konzentrierte ich mich auf einen Monat und mischte die Karten langsam durch, bis ich das Kribbeln in meinen Fingern spürte. Das Zeichen, dass es genug war. Dann legte ich sie in einem großen Bogen aus und glitt mit meiner linken Hand darüber. Über drei Stellen wurde es warm und ich zog  diese Karten aus dem Stapel. 

"Danke. Diese drei Karten stehen für die Vergangenheit, das Jetzt und die nahe Zukunft im Bezug zu ihrer Frage.. "

Ich drehte die erste Karte um. Sie war voller greller roter, gelber und oranger Farben und Muster. Unter den Mustern war das Wort Kampf verborgen. Das waren die Impulse, die ich brauchte und der Rest kam von selbst.

"Bei diesen Streitigkeiten handelt es um eine alte Fehde. Etwas, das irgendwie schon immer Bestand. Etwas, das immer wieder zu Schmerzen und Kampf geführt hat."

Langsam drehte ich die zweite Karte um. Sie wirkte gegen die erste ruhig in ihren braunen und grünen Tönen. Pause - das war eines der Worte, die unter dem Bild versteckt waren.

"Im Moment gibt es eine trügerische Ruhe. Es ist eine Pause zur Vorbereitung, die ablenken und unaufmerksam machen soll."

Meine Hand kribbelte schmerzhaft, als ich nach der dritten Karte griff. So starke Reaktionen hatte ich selten. Die Karte war in einem dunklen Rot mit schwarzen Schlieren. Darunter war eines der Worte - Tod. Eine seltsame Karte, doch die Muster zogen mich dieses Mal mehr an. Ein fast perfekter Kreis wurde durch die schwarzen Schlieren gezogen und es drängte mich danach etwas zu sagen. Früher hatte ich Angst vor den Reaktionen, aber ich hatte gelernt diesen Impulsen nachzugeben.

"Es wird eine blutige Auseinandersetzung kommen, die das Ende für vieles bedeuten kann. Da diese Karte für das Unternehmen steht, wird es den Verlust erleiden."

Ein tiefes Knurren lies mich hochsehen. Samuel saß aufrecht vor mir und starrte die Karten und dann mich an. Sein Blick war so intensiv, dass mir eine Gänsehaut den Rücken herunterlief.

"Wann?"

"Zum Neumond."

Ich beschrieb das erste Bild, das sich mir zeigte. Nicht immer machten meine Aussagen für mich Sinn, doch meine Kunden wussten damit etwas anzufangen.

"Warum an Neumond? Dort sind die Kräfte am Schwächsten, auf beiden Seiten. Das macht keinen Sinn."

Ich zog eine weitere Karte. Sie war in den Grundfarben gehalten und darunter verbarg sich ein Wort - Unterstützung.

"Die Kräfte Ihres Konkurrenten haben Unterstützung bekommen. Sie werden nicht schwach sein, sondern ihre Schwäche ausnutzen."

"Wer unterstützt ihn?"

Das war ein Muster, das mir auf der Unterstützungskarte auffiel. Es konnte sich um einen Mitbewerber handeln, mit Flügeln als Logo oder jemand, der ein Interesse an Insekten hatte. 

"Libellenflügel. Sagt Ihnen das etwas?"

Samuels Blick wurde düster. Er wusste, wen oder was ich damit meinte und es gefiel ihm nicht.

"Wie kann ich  mir einen Vorteil verschaffen?"

Ich zog eine weitere Karte. Diese war voller Linien, die ins Zentrum der Karte strebten. Eine Bedeutung darunter war - Zentrierung.

"Sammeln Sie Ihre Ressourcen. Ziehen Sie alles zusammen. Nutzen Sie ihre Verbindungen und bringen Sie Ihren Kontrahenten dazu, Ihnen dorthin zu folgen."

Ich spürte, wie sich in mir die Erschöpfung ausbreitete. Ich wusste, dass damit meine Konzentration gebrochen war und die Beratung beendet werden musste. Alles was danach kam, war zu ungenau. 

"Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen."

Mein Gegenüber führt sich mit der Hand durch das Gesicht. Er wirkte ebenso erschöpft, wie ich. 

"Sie haben mir sehr geholfen Frau Wolf. Wirklich. Ich hatte nur nicht mit so etwas gerechnet."

"Die Zukunft ist nicht festgelegt, Samuel. Ihre Entscheidung formt das, was kommt. Bisher hätten Sie an Neumond andere Dinge getan und dadurch wäre es zu Ergebnis gekommen. Nun haben Sie die Möglichkeit, neue Entscheidungen zu treffen und demzufolge wird sich die Zukunft ändern."

"Können Sie sehen, wie sie wird?"

Ich schüttelte den Kopf. So einfach war das mit den Karten nicht.

"Nicht jetzt, nein. Ich könnte Ihnen natürlich die Karten legen und Ihnen sagen, was ich sehe. Doch die Zukunft ist jetzt zu schwammig und die Antworten werden oberflächlich sein. Erst wenn Ihre Entscheidungen getroffen sind und Sie sich auf einen neuen Weg begeben haben, kann ich mit den Karten echte Aussagen treffen."

Langsam sortierte ich meine Karten zusammen und goss uns beiden erneut Wasser ein.

"Trinken Sie. Sie stehen jetzt an einem Scheideweg, der Ihnen neue Möglichkeiten und Risiken möglich macht. Da ist es wichtig, im Fluss zu bleiben und viel Wasser zu trinken. Wenn wir zu wenig trinken, bleiben wir auf alten Wegen stecken. Und das ist etwas, das sie im Moment am ehesten nicht tun sollten."

Wir tranken unsere Gläser leer und ich konnte sehen, wie mein Gegenüber bereits seine nächsten Schritte plante. 

"Was bin ich Ihnen schuldig?"


Leseprobe "Aileen Wolf - Erwachen"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt