Kapitel 5

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Nun betraten wir die riesige Halle, die mich irgendwie wirklich an eine Fantasy-Welt erinnerte und blieben an einer alten Holztür stehen. Liam kramte einen rostigen Schlüssel aus seiner Hosentasche und schloss sie auf.
"Hier..." Er schleppte einen großen Eimer mit roter Farbe an und stellte ihn vor mir auf dem sandigen Boden ab. "Das brauchst du für dein Namensschild am Zimmer, das ich dir noch zuteile. Und das hier auch." Er hob zwei Pinsel vom Boden der kleinen Kammer - vermutlich eine Putzkammer - auf und reichte sie mir.
"Was macht man damit?", fragte ich und betrachtete die Dinger in meiner Hand unsicher.
"Sag bloß... Oh, stimmt. Tut mir leid, ich dachte nur..." Wieder machte er eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. "Auch egal. Du kannst damit malen. In deinem Fall eher schreiben, das wird dir dein Zimmergenosse zeigen.", meinte mein Onkel, murmelte noch etwas darüber, dass er heute wirklich verwirrt war und schloss die Tür der Putzkammer dann wieder sorgfältig ab.
Ich runzelte die Stirn. "Und wer wird das sein?"
Liam zuckte die Schultern. "Muss ich nachgucken. Momentan besteht deine Klasse aus etwa sechs oder sieben Schülern, vielleicht schaffen wir es gar nicht, jemanden zu organisieren. Aber auch jemand ganz anderes kann dir zeigen, wie man mit Pinseln umgeht." Er grinste und klopfte mir auf die Schulter.
"Okay.", sagte ich gleichgültig und versuchte, entschlossen zu klingen, aber das war ich nicht. Ich wusste einfach nicht, was ich hier überhaupt zu suchen hatte und es gab keinen richtigen Grund dafür, hierzubleiben. Andererseits hatte ich einen Teil meiner Familie gefunden, wusste beinahe die Wahrheit und trotzdem fühlte ich mich noch etwas unwohl.
Aber ich kannte meine Menschengestalt erst seit ein paar Minuten, konnte erst seit Kurzem fliegen und war nicht annähernd bereit, ein Leben allein zu führen.
Ich seufzte. "Äh, Liam?"
"Ja?", entgegnete er ohne wirklich auf mich zu achten, da er gerade damit beschäftigt war, eine Klette aus dem Stoff seiner Fleecejacke zu entfernen.
"Weißt du, wie alt ich ungefähr bin? Also in Menschenjahren?", wollte ich wissen und zu meinem Glück schaute er jetzt auf.
"Naja, wenn du rechtzeitig das Fliegen gelernt hast, wären es jetzt ungefähr dreizehn Jahre, die du hinter dir hast.", überlegte er, dann wandte er sich wieder der Klette zu, die er kurze Zeit später mit einem "Hab dich!" rausriss.
"Okay, danke."
Ich hatte von Romo schon früh erfahren, dass Menschen mit Achtzehn ausgewachsen waren, aber ich war ja keiner. Logisch war jetzt nur, dass ich mit fünfzehn oder sechzehn soweit war, wieder in die Wildnis zu ziehen. Noch mindestens zwei Jahre, in denen ich bloß warten konnte...

"Hi, bist du neu hier?", fragte eine zarte Mädchenstimme und riss mich aus meinen Gedanken.
"Äh, ja. Ich bin Ruby.", stammelte ich verwirrt und lächelte flüchtig.
"Luna. Nett, dich kennenzulernen.", meinte das Mädchen fröhlich und wollte mir beinahe die Hand reichen, aber sie entschied sich im letzten Moment noch um und lächelte einfach zurück.
"Ich bin größtenteils als Mensch aufgewachsen, deswegen diese blöde Angewohnheit.", erklärte sie nickend und wurde etwas rot, aber ich tat so, als hätte ich es nicht bemerkt.
"Welche Tiergestalt?", fragte ich und bemühte mich, es so beiläufig wie möglich klingen zu lassen. Aber vermutlich sah Luna das interessierte Leuchten in meinen bernsteinfarbenen Falkenaugen.
"Rate mal." Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Ich musterte sie von oben bis unten.
Ihre Haare waren hellblond und sie hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, vermutlich, weil sie sonst viel zu lang waren. Ihre Augen waren groß und funkelten in einem kräftigen Gelb, während der Rest ihres Körpers - vor allem die Arme - kräftig und unbeweglich wirkte.
Ganz klar eine Eule!
"Eule?", sprach ich meinen Gedanken aus.
"SCHNEEeule!", verbesserte Luna mich immer noch grinsend.
"Ich bin ein Gerfalke.", sagte ich, worauf Luna mir zuzwinkerte.
"Greifvögel am Start!", scherzte sie und tatsächlich musste ich lachen. Ausgerechnet jetzt kam Liam zurück - er hatte mir einen Müsliriegel besorgt - und gesellte sich zu uns.
"Hier. Lass dir das Vogelfutter schmecken." Keine Frage: er hatte uns bei unseren Scherzen gehört und wollte sich das nicht entgehen lassen.
Ich grinste, dann nahm ich den Riegel und versuchte, ein Stück abzubeißen.
"Nein, du musst erst die Verpackung aufmachen.", meinte Luna und ich sah, wie sie sich ein Lachen verkneifte.
"Jaja, wusste ich.", murmelte ich und riss das Plastik mit meinem langen Nagel auf, bevor ich den Riegel wirklich kosten konnte.
Ein herrlich süßer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus und ich war kurz davor, ein genüssliches Stöhnen von mir zu geben. So etwas Leckeres hatte ich im Leben noch nicht gegessen!
Luna und Liam schauten mir lächelnd zu, bis Liam die kurze Stille unterbrach: "Mir fällt gerade ein, Luna hat doch ein Einzelzimmer. Wie wär's, wenn du mit ihr ein Zimmer teilst, Ruby?"
Ich schluckte den letzten Bissen herunter und nickte eifrig.
"Das wär total fedrig!"
Auch Lunas Augen strahlten noch mehr, als ohnehin schon.
"Dann zeigt dir Luna, wie man schreibt. Zimmer Nimmer 4. bitte." Mit diesen Worten und einem freundlichen Nicken in unsere Richtung ging Liam wieder davon.
"Na dann, mir nach!", kündigte Luna freudig an und zusammen machten wir uns auf den Weg nach ganz oben. Wie ich vermutet hatte, waren hier die Zimmer der Schüler zu finden.
"Die Mädchen sind links, die Jungs rechts. Hier wären wir." Luna blieb vor einer diesmal nicht so alt wirkenden Holztür stehen und ich gab ihr den Eimer mit Farbe, den ich den ganzen Weg bis hierher geschleppt hatte. Was nicht gerade einfach war.
"Okay..." Luna nahm einen Pinsel in die Hand, den anderen gab sie mir.
Dann erklärte mir sie ganze zehn Minuten, wie man ihn richtig halten konnte, wieviel Frabe ich benutzen sollte und schließlich durfte ich endlich, endlich mit dem Malen anfangen. Ich hatte gar nicht gewusst, dass Eulen so viel brabbelten.
"Willst du noch einen Klauen-Abdruck machen?", fragte mich Luna, als ich mit meinem Namen fertig war.
"Oh, na klar!", sagte ich sofort und versuchte, mich zu verwandeln, aber es klappte nicht.
"Denk an deine Falken-Gestalt.", meinte meine Eulen-Freundin ruhig und diesmal klappte es schon etwas besser. Zwar hatte ich noch immer Arme, statt Flügel, aber für einen Abdruck meiner Klauen brauchte ich die schließlich nicht.
Als ich es geschafft hatte, ihn auf mein Namensschild zu bekommen, verwandelte ich mich wieder in einen Menschen und betrachtete mein Werk.
"Gar nicht schlecht.", fand Luna, die neben mir stand und es ebenfalls musterte.
"Ganz deiner Meinung." Ich sah sie an und grinste. Nein, ich wollte hier nicht mehr weg. Nicht jetzt.

Falkenfeder - Woodwalkers FanFictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt