Kapitel 1

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Ein Sonnenuntergang in Kanada war immer ein wunderschönes Schauspiel. Alles wurde in ein sanftes, aber trotzdem kräftiges Gold getaucht und besonders, wenn man es aus der Luft betrachten konnte, ließ man kaum die Augen davon.
Die junge Adler-Dame Alia glitt über den schmalen Fluss, der mit einer dünnen Eisschicht bedeckt war und sie hoffte, dass der Frühling nicht zu spät eintraf. Das würden ihre Nachkommen, die bald schlüpfen würden, nicht überleben.
Sie ließ sich auf einem Ast ein paar Meter neben ihrem Nest nieder und seufzte innerlich, da ihr Gefährte Romo noch immer nicht zurückgekehrt war. Heute war er dran mit Jagen und Alia wusste, dass er nur das Beste fing, aber die Zeit wurde knapp. Es war gut möglich, dass es heute schon so weit war. Dass die Eier Risse bekamen, Federn durch die dünnen Schalen schauten und ein kleiner Schnabel sie zerbrach. Alia konnte nur hoffen, dass Romo nichts passiert war. Sie war nah dran zu betteln, dass alles gut war.
Und so war es auch. Romo raste im Sturzflug auf sie zu, warf ihr eine tote Ratte zu und landete neben ihr auf dem Ast, der jetzt etwas schwankte. Alia krächzte ein "Danke" in seinen Kopf und gab ihm die Hälfte seiner Beute, Die er sofort gierig verschlang.
"Und, ist schon was passiert?", fragte er Alia und sie schüttelte stumm den mit braunen Federn bewachsenen Kopf.
"Ich fürchte, wir können nur warten."
Romo nickte langsam, während sein Blick bloß den drei Eiern im großen Nest galt. Auch Alia konzentrierte sich bald nur auf sie und plötzlich bildete sich ein Riss auf der Schale des kleinsten Eis. Die beiden Gefährten reckten die Köpfe und sicher hofften sie beide, dass es bald wirklich so weit war.
Alia war knapp davor zu zittern. Nach Jahren hatte sie endlich Nachwuchs bekommen! Sie konnte es kaum erwarten.
Doch was nach einigen Minuten zum Vorschein kam, war weder braun noch gelb. Es war weiß!
Eine weiße Feder mit ein paar braunen Sprenkeln schien hinter der Schale wild um sich zu schlagen.
"Eine...", begann Romo.
"Falkenfeder!", japste Alia und starrte das kleine, viel zu kleine Ei an.
Weitere Minuten verstrichen, in denen nichts passierte. Erst als die Nacht bereits hereingebrochen war, befreite sich ein kleines Falkenjunges aus dem Ei und schüttelte sich.
Das junge Adlerpaar tauschte beunruhigte Blicke und Alia schluchzte beinahe. Aber sie verdrängte dieses Gefühl der Enttäuschung und betrachtete den kleinen Gerfalken einfach nur. Schnell erkannte sie, dass es sich um ein Weibchen Handeln musste.
"Weißt du, das Ei muss uns jemand ins Nest geschmuggelt haben. Das ist niemals unser echtes Kind!", sagte sie in Romos Kopf und ihre Stimme klang gereizt, wofür sie einen verlegenen Blick aufsetzte.
"Du kannst doch nicht..."
Sie unterbrach Romo: "Wir nennen sie Ruby. Ein Name wird ihr beim Überleben vielleicht wenigstens ein bisschen helfen."
Romo starrte seine Geführten entsetzt an. "Du willst sie aussetzen?!"
Alia nickte. "Wo liegt das Problem? Das ist nicht unser Kind!"
Romo hielt seinen Blick stand. Er schien wirklich nicht begeistert von Alias Idee.
"Ich werde das nicht zulassen, Alia! Meinetwegen setzen wir sie aus, wenn sie gelernt hat, zu fliegen. Aber jetzt sehen wir Ruby als unsere Tochter!" Romo hüpfte in das Nest und stellte sich schützend vor das kleine Küken. Alia seufzte.
"Also gut, wenn sie fliegen kann, setzen wir sie aus.", gab sie nach und Romo schickte ihr eine Welle der Würde und Dankbarkeit in ihren Kopf.

Mein Leben war nie ein einfaches gewesen. Nie hätte ich gedacht, dass Adler manchmal versuchten, sich gegenseitig umzubringen, nur um mehr Futter zu bekommen. Und das unter Geschwistern!
Ich saß am Nestrand und schaute meinen Zwillingsbrüdern zu, wie sie sich gegenseitig die schönen, braunen Federn ausrissen.
Leider waren unsere Eltern nicht da, um das zu verhindern. An jedem anderen Tag hätte ich sicher ihre Rolle übernommen und mich zwischen sie geworfen, aber heute war ich nicht in der Stimmung.
Ich konnte nur an eines denken. Und zwar daran, dass ich bald meine Schwingen ausbreiten würde und mich von dem Rand des großen Nests fallen lassen würde. Ich vertraute meiner Reife einfach nicht, da ich anders war, als meine Brüder. Ich war kleiner, zierlicher, schwächer. Warum also nicht unreifer?
Meine Augen wanderten über die Baumkrone, die mich bald nicht mehr schützen würde, bis in den Himmel, dem ich bald entgegenflattern würde.
Ich seufzte. Noch immer gaben Mo und Marl keine Ruhe, was mich dann doch etwas reizte.
"Hey, könnt ihr mal damit aufhören?", fragte ich, hob ein Stück ab - das hatte ich schon vor Wochen gelernt - und landete genau zwischen ihnen.
"Aus dem Weg, Winzling!", zischte mein Bruder Mo und versuchte, Marl über mich hinweg zu attackieren, was er natürlich schaffte. Wie ein totes Amselküken fiel ich auf den Boden des Nets und fluchte einen Moment lang, bevor ich einen schrillen Laut von mir gab.
Ein riesiger Steinadler landete vor meinen Geschwistern und sah sie herausfordernd an.
"Du, in die Ecke!", rief mein Vater Marl zu, der eingeschüchtert hinter mich krabbelte. Mo konnte bleiben, wo er war und ich sowieso.
"Wenn das noch ein einziges Mal vorkommt, gibt es für euch beide bloß, Hmm... GAR NICHTS zu essen!"
Die beiden Adler-Jungen schienen zu schlucken, denn kurz reckten sie beide die Köpfe.
"Sehr gut." Romo hüpfte zurück auf einen dicken Ast neben unserem Nest und machte sich daran, sein Gefieder zu putzen.

Am nächsten Tag war es dann so weit.
Ich, Mo und Marl stellten uns in einer Reihe am Rand unseres Nests auf und unsere Eltern prüften noch irgendwas an unseren Flügeln, bevor unsere Mutter sich in unseren Köpfen räusperte und Romo auf einen Ast über uns flog.
"Seid ihr bereit, Kinder?", fragte er und wir nickten schweigend.
"Dann könnt ihr es versuchen."
Panik durchflutete meinen Körper und ich starrte auf den Boden - den echten Boden. Alles um mich herum verschwimmt immer mehr, ich sah nur noch einen tiefen Abgrund unter mir, der nur so nach mir rufen zu schien.
Etwas Braunes raste an mir vorbei und kurz darauf kam eine zweite Gestalt hinzu. Mo und Marl schlugen hastig mit den Flügeln, sanken immer weiter... Aber ich achtete nicht auf sie und starrte einfach weiter den steinigen Boden an.
Ich werde sterben, ich werde sterben... Ich verdrängte den Gedanken mit einem energischen Kopfschütteln, dann ließ ich mich einfach fallen.

Falkenfeder - Woodwalkers FanFictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt