We Deserve

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Das winzige Zimmer in dem dreckigen Motel, in welchem es zum Frühstück labbrigen Toast gab, stank nach Krankheit. Sie mussten circa fünf Stunden von Baltimore entfernt sein. Weiter waren sie nicht gekommen, denn Will hatte zu fiebern begonnen und Sorge war in Hannibal aufgestiegen. Sie ließ ihn vergessen, dass die Schusswunde, die er notdürftig behandelt hatte, schmerzte. Sie pochte, doch er war noch immer ein guter Arzt. Sie würde sich nicht entzünden. Jede Bewegung war eine Erinnerung an das Haus auf den Klippen. An die Nacht, die sie hierhergebracht hatte. Dabei war es nicht nur diese Nacht gewesen. Es waren all die Nächte davor, die Tage, die Monate, (die Morde). Vielleicht war es jener Tag in Jacks Büro gewesen, der so viele Jahre zurücklag, der ihnen den entscheidenden Stoß gegeben hatte. Ein Stoß, der sie hinab befördert hatte in die Tiefe. Ins eisigkalte Wasser des Meeres.

Von außen betrachtet, dachte Hannibal, steuerte ihre Geschichte unaufhaltsam auf diese Klippe zu. Es hatte kleine oder größere Umwege gegeben, aber letzten Endes hatte es für sie nur einen Weg gegeben. Ein festgefahrener Pfad durch Schmerz und Leid. Ein klassisches Stück, welches durch Forte, Crescendo und Smorzando unweigerlich auf das Ende zusteuert. So schön einzelnen Passagen sein mochten, so sehr man sich wünschte, das Orchester würde bis in alle Ewigkeit dieses mitreißenste aller Stücke spielen, so sehr man den Moment fürchtete, in dem der Dirigent den Taktstock zur Seite legte und der letzte Ton endgültig verhallte, so war doch jedem klar, dass Fluss der Musik sich nicht aufhalten lies. Jeder wusste zu jeder Sekunde, dass der letzte Ton unweigerlich folgen würde. Dass es ein danach geben würde.

Noch im Stück konnte niemand den letzten Ton voraussagen. Erst im Nachhinein fügte er sich in die Komposition und jedem wurde klar, dass es kein anderes Ende für dieses Stück hätte geben können. Niemand würde dem Komponisten Willkür vorwerfen. Niemand warf Gott Willkür vor.

Wie in einer Spirale waren sie immer weiter abwärts gekreist. Ein Weg festgeschrieben auf Gottes Notenblatt. Hinab in die endlosen Fluten. Es hätte ihr Tod sein sollen, die letzte Note eines grausamen Stückes. Doch gerade als der letzte Ton verklungen war, hatte der Dirigent den Taktstock erneut gehoben. Da capo al fine.

Das winzige Zimmer stank nach Verdammnis. Sie waren seit drei Tagen hier, Will fieberte noch immer. Seine Stirn war brütend heiß, sein Atem rasselte in seinen müden Lungen. Hannibal hatte Angst. Sie nagte in seinem Inneren und verdarb ihn den Appetit. Seit Jahren hatte er keine Angst mehr empfunden, nie war ihm sein Appetit abhandengekommen. Er wusste, dass sie verdammt waren. Verdammt bis ans Ende ihres Lebens zu fliehen. Vor Jack, dem FBI, vor sich selbst. Sie waren schon einmal fortgelaufen. Hatten sich in Europa ein Katz- und Mausspiel geliefert, eine Schnitzeljagd. Er hatte Brotkrumen ausgestreut. Menschliche Körper verformt zu menschlichen Herzen. Beinahe jeden Knochen hatte er in ihren Körpern brechen müssen. Den meisten hatte er das Herz herausgenommen (eine Metapher?). Ein Herz für Will, ein Loch wo das Herz hätte sein müssen.

Sie waren fortgelaufen und auf den Klippen gestrandet. Sie hätten dort sterben sollen, gemeinsam (wenn Wills Plan aufgegangen wäre). Hannibal wusste nicht, ob er beleidigt sein sollte, weil Will wieder versucht hatte seinem Leben ein Ende zu setzen. Er konnte sich nicht davon überzeugen. Stattdessen zerlegt sein Geist alles Gesagte und Getane.

Rette dich selbst. Töte sie alle." „Ich weiß nicht, ob ich mich selbst retten kann. Vielleicht ist das gut so."

Sie waren unrettbar verloren. In einem Leben, dass sie weder miteinander noch ohne einander führen konnten. Er konnte Will nicht übelnehmen, dass er sie aus dieser mieseren Lage hatte befreien wollen. Er selbst hätte denselben Weg gewählt.

Das winzige Zimmer stank. Seit einer Woche saß er an Wills Bett. Kühlte ihm die Stirn und entschuldigte sich für die Unannehmlichkeiten, die der Jüngere wegen ihm in den letzten Jahren hatte durchmachen müssen. Es war eine endlose Liste. Er entschuldigte sich für keine Unannehmlichkeit zweimal. Er rekapitulierte ihre gemeinsamen Jahre. Ihr erstes Treffen schien ewige Leben her zu sein. Sie waren hier, in einem winzigen Zimmer, viele Leben später. Zwischen „Bitte psychoanalysieren Sie mich nicht" und „Es ist wunderschön" hatten sie unendlich viele Leben geführt.

Sie hatten einander erkannt. „Sind Sie ein Mörder, Dr. Lecter?". Sie hatten einander verloren. „Sie sind nicht mein Freund. Das Licht der Freundschaft, wird uns für Millionen Jahre nicht erreichen. Soweit sind wir von Freundschaft entfernt.". Einander bekriegt. „Würde es sich gut anfühlen mich umzubringen?". Zueinander zurückgefunden. „Ich würde gerne meine Therapie wieder aufnehmen." Und sich erneut aus den Augen verloren. „Will- war es gut mich zu sehen?" „Gut? Nein.".

Manchmal glaubte er, dass sie wie zwei Planeten umeinanderkreisten. Sie prahlten mit voller Wucht aufeinander. Destruktiv, mitreißend, verschlingend. Sie stießen einander ab. Wund, verändert, gezeichnet.

Es gab keinen Frieden mehr. Kein Zurück. Sie hatten einander gefunden, verändert, (geliebt). Er hatte sich nie mehr gesehen gefühlt. War nie mehr er selbst gewesen, als er es war, wenn er mit Will zusammen war (Wills Worte). Einsamkeit war über Jahre sein Begleiter gewesen, dann war Will in sein Leben gestolpert und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er die Hoffnung gehabt, dass er nicht auf ewig allein in der Dunkelheit sein musste. Also hatte er zugelassen, dass die Dunkelheit Will verschlang. Es war wunderschön, wie schwarzes Blut im Vollmond. Sie hatten einander verfolgt.

Wie tötet man ein Monster, ohne eines zu bekommen?
Waren sie nicht alle im Laufe ihres Lebens Monstern ausgesetzt?
Wer war also am Ende des Lebens mehr Mensch als Monster?

Er erinnerte sich an den Tag auf der Klippe, an ihr anderes Leben. Blut auf seinem Hemd (oder war es der teure Rotwein?). Will über ihm, Dolarhydes Videokamera. Wills Blick in dem er Vergebung gefunden hatte. Ein einziges Leben, oben in dem Haus an den Klippen. Ein Leben für die Ewigkeit. Ein Leben genug für tausend.

Tausend Leben, alle endeten in diesem Zimmer. Andere Leben, die sie berührt hatten. Beverly, Jack, Margot, Alana, Frederick, Gideon, sogar Bella und Dolarhyde. Sie alle hatten sie in dieses Zimmer gedrängt. Eine Reihe von Leben, Geschichten, Leichen.

Am Ende war ein Zimmer und es stank nach Krankheit und Tod.

Er flößte Will Wasser ein. Inzwischen entschuldigte er sich nicht mehr. Die Stille zwischen ihnen wog Tonnen. Wills Atem rasselte. Manchmal war es zu viel für ihn. Manchmal wollte er einfach nur fliehen. Raus aus dem Raum, der nach Krankheit roch. Weg, bevor man sie fand und ihn zurück in seine Zelle warf. Doch nie hätte er Will allein lassen können. Tausend Jahre in Gefangenschaft könnte er erdulden, würde Will ihn nur sehen (würde Will nur leben).

„Will ist tot und du bist schuld, Hannibal", Alanas Stimme. Er schrie, sein Schrei klang selbst in seinen Ohren dumpf. Einen Moment wusste er, dass sie Recht hatte. Er hatte Will getötet. Hatte ihm die Möglichkeit auf ein Leben genommen, dass Will verdient hätte. Dann wachte er auf, sein Rücken schmerzte. Will stöhnte neben ihm, doch er atmete, er lebte. Sie lebten. Er hatte das Gefühl zu ersticken, als raube ihm die Enge des Raumes die Luft. Als fließe die Luft wie Teer in seine Lunge, fühlte sie, raubte ihm seine Sinne.

Das Zimmer stank. Er riss die Fenster auf, ließ kühle Nachtluft herein. Verirrte Autos auf dem Highway. Hinter den Windschutzscheiben Millionen Leben. Niemand hatte eine Ahnung von den anderen, niemand ahnte, dass sie hier hinter den Gardinen waren. Dass sie gelebt hatten, tausend Leben lang. Dass er Will liebte genug für weitere tausend Leben.

A Soft EpilogueWo Geschichten leben. Entdecke jetzt