Schon gefühlte tausendmal war der Brief zerknüllt worden, schon gefühlte tausendmal wütend gegen die Wand geworfen worden und von bestimmt tausend Tränen wurde die Schrift an manchen Stellen verwischt.
Doch die Tränen stammten nicht von Atef. Seine Mutter war neben ihm gesessen, als er ihn gelesen hatte. Es waren ihre Tränen. Noch einmal las Atef den Brief, um sicher zugehen, dass es wahr war:
Sehr geehrter Rekrut.
Unsere Neuen, darunter auch Sie, werden als Trommler eingesetzt. Das heißt, sie dürfen die wichtigen Schlachten an vorderster Front miterleben. Eingekleidet werden sie Mittwoch, den 2. August. Ich freue mich auf ein Wiedersehen, Ihr Minister für Jugendausbildung und -Erziehung.
Na toll, auch noch eine Erinnerung an das Todesurteil.
Heute war Dienstag, der 1. August. Mirals 15 Geburtstag. Als Trommler war man so etwas wie ein "Menschliches Schutzschild". Und wieder eine Erinnerung an das Todesurteil von so vielen Jungen in seinem Alter. Miral konnte beinahe glücklich sein, dass er so ein winziger Krüppel war. Mit seinen 13 Jahren überragte Atef ihn gut und gerne um einen Kopf, war viel kräftiger und auch nicht ganz so unterernährt. Später würden sie gemeinsam ein Maisbrot essen, zur Feier des Tages. Welch Ironie. Nocheinmal knüllte Atef seinen Brief zusammen und warf ihn in die Ecke.
Miral stützte sich auf seiner Harke auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Was für ein Geburtstag. Vorhin hatte er gesehen, dass ein Brief vor die Tür von Atef und seiner Mutter gelegt worden war. Abgeschickt vom Minister für Jugendabrichtung, wie sie ihn nannten. Was das bedeutet, war ja wohl klar. Atef müsse nocheinmal erscheinen. Miral war auch klar, dass er bald auch ein Schreiben bekommen würde. Auch für einen Krüppel wie ihn gab es immer Verwendung. Zum Beispiel im Lazarett zum Wunden verbinden. Ja, Miral war in der Entwicklung zurückgeblieben. Wegen Unterernährung. Mit 7 war er krank, die Familie hatte nicht genug zu essen für alle und auch wenn es sich furchtbar oder barbarisch anhört, auf einen musste verzichtet werden. Weil er die Krankheit eigentlich sowieso nicht überleben hätte sollen, gab man ihm weniger. Aber Miral schaffte es. Mit fast 9 Jahren hatte er sich komplett erholt. Doch seit zwei Jahren war er keinen Zentimeter mehr gewachsen und seine Muskeln wurden eher schwächer als stärker. Seufzend schüttelte Miral die Krämpfe aus den Armen und gesellte sich zu Youssuf um ihm weiter bei der Arbeit zu helfen.
Cosima rollte den holprigen Weg zum Geheimen Lager von ihr, Vali und Miral. Auch Yosh war einmal "Besitzer" eines Teils dieser Höhle gewesen. Vor Kurzem hatten die drei Restlichen beschlossen, Atef in ihr Lager einzuweihen. Links. Rechts. Geradewegs in den Wald hinein und nocheinmal links. Da waren sie. Ein Haufen von Dreck und Geröll war genau so platziert worden, dass man den Eingang in eine dahinterliegende Hoöhle zuerst nicht entdecken konnte. Cosima atmete tief den Geruch von der Erde und den Pflanzen ein, der Geruch von gemeinsam überstandenen Schwierigkeiten. Fast konnte sie auch das Lachen hören, von ihrem jüngerem ich und dem ihrer Geschwister. Cosima atmete weit aus und rollte dann durch den niedrigen Eingang.
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Drei ist mehr als nichts
RandomKrieg in Syrien. Die behinderte Cosima und ihr bester und einziger Freund Atef kennen sich solange sie denken können. Nie waren sie wirklich getrennt, doch das sollte sich ab Atefs 13. Geburtstag ändern.