Rotkehlchen

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Etwas weniger als zwei Wochen vergehen, ehe ich sie wieder im Irrlichter antreffe. Generell würde ich es nicht unwahrscheinlich finden, wenn die ganzen abgerissenen Gestalten hier sie zu sehr abgeschreckt hätten. Vor allem wenn ich bedenke, dass Eve das letzte Mal, als ich sie gesehen habe, von irgendeinem vollkommen zugedröhnten Mädel vollgekotzt wurde...
Da liegt die Vermutung nahe, dass sie ab jetzt diesen Ort zu meiden scheint.

Etwas überrascht bin ich demnach, als ich sie doch wiedersehe. Gerade trete ich durch die rissige Holztür, welche das Café mit einem schmalen Flur verbindet, und sehe sofort die unverkennbaren, langen, feuerroten Haare Eves. Sie allerdings kann mich nicht erkennen, da sie mit dem Rücken zu mir an einem der Tische sitzt. Vor ihr steht gerade noch eine junge, mir unbekannte Frau. Diese jedoch lässt sich nun ebenfalls einige Momente später zögerlich auf die Sitzpolster nieder, fixiert dabei unentwegt skeptisch ihren Gegenüber.

Was beide sagen kann ich aus der Entfernung noch nicht verstehen und bemerke deshalb nur, wie sie sich mit einer leicht verspannten Bewegung eine der brünetten, halblangen Strähnen hinter das Ohre schiebt. Ihre gesamte Körperhaltung lässt darauf schließen, dass sie sich sichtlich unwohl fühlt und eigentlich gar nicht hier sein will.

Auch ich setze mich an einen der Tische und hole, wie so oft, meine In-Ears heraus und stöpsele sie in die Kopfhörerbuchse an meinem Handy.
Mein Blick schweift zu den großen Fenstern hin und ich betrachte das vorbeiziehende Kleinstadtleben hinter den befleckten Scheiben, während ich mich voll und ganz auf die Klänge der Musik fokussiere.

Ein Lied nach dem anderen vergeht. Leute laufen auf den Straßen mit großen, vollbepackten Einkaufstüten auf denen das Logo verschiedenster Läden gedruckt ist. Manchmal sehe ich im Raum umher, sehe kurz hinter mich zu Eve und ihrer Begleitung, die sich immer noch nicht ganz wohl zu fühlen scheint. Dann schaue ich wieder zurück und das Lied wechselt.

Nach einer Weile taucht ein grüner Haarschopf in meinem Sichtfeld auf und Gabby tritt ins Café ein. Sie lässt sich mehr oder weniger elegant mir gegenüber auf die Sitzbank niederfallen, legt anschließend die Füße mit den schwarzen, bemusterten Stiefeln auf der Tischplatte ab. Die eine Kellnerin funkelt sie böse an, doch sie ist Gabbys Verhalten ja eigentlich auch gewöhnt. Das Mädel ist eben unbelehrbar.

Ich werfe ihr nur einen kurzen Blick zu, deute ein Lächeln an.
Sie sieht etwas erschöpft aus, als wäre sie gerade lange gerannt. An ihrem Arm sind ein paar Schrammen,  auf ihrer Kleidung Farbflecken und auf ihrem Gesicht ein schelmisches Grinsen. Wer weiß, was sie wieder angestellt hat.
Bestimmt nichts Gutes, doch ich beschließe, mich diesmal nicht einzumischen.
Den Fehler hab ich häufig genug begangen.

Keiner von uns sagt etwas. Während ich mich weiter mit dem Album, das ich gerade höre, beschäftigte, lehnt sie sich zurück und pult Gedankenverloren an dem losen Faden eines Patches auf ihrer Hose herum. Darauf hat sie in gelber Schrift unordentlich "ANOK4U2" draufgeschrieben. Das derzeitige Lied verklingt mit den letzten Tönen eines Basses und Stille kehrt für wenige Sekunden ein.

,,Aber, Fayna! Denkst du sie hätte gewollt, dass du in so einer Gegend endest!? Was denkst du dir eigentlich dabei!", dringt auf einmal eine aufgebrachte Stimme dumpf durch meine Kopfhörer. Die ersten Takte des nächsten Liedes der Band Rancid setzen bereits ein, doch ich lasse sie augenblicklich verstummen, drücke auf das Stopp-Symbol auf dem Display und ziehe einen der In-Ears heraus.

Ich lehne mich etwas weiter in das Polster und achte auf das Gespräch. Die Stimme von eben äußert weitere Vorwürfe, die sie scheinbar an eine gewisse Fayna richtet. Sie spricht klar und deutlich in einem beinahe gehobenen Deutsch. Schätze mal, die Person ist die Frau, die Eveline gegenüber sitzt.

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