Vapour Trail

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Es sind noch zwei Wochen hin bis zu den Weihnachtsferien. Lichterketten schaukeln über meinem Kopf, als ich durch eine Straße schlendere. Ich kenne die Straße nicht, bisher bin ich sie noch nie durchlaufen. Dabei ist sie nur vier fünf Gemüsebeete von dem Gestrüpp entfernt, unter dem Tony und ich uns vor Johannes versteckt hatten.
Da ist kein Ziel in meinem Bewusstsein. Ich spaziere wahllos durch die Gegend. Heute Mittag hab ich bei Chris zuhause angerufen, ob er sich auf dem Weihnachtsmarkt an der Hauptstraße treffen will, obwohl der lächerlich klein und langweilig ist. Nichts als vereinzelte Holzhütten, wo Glühwein und Lebkuchen verkauft werden und ein lieblos zusammengezimmertes Kinderkarussell, gerade mal so breit wie eine Litfasssäule.

Chris konnte nicht, er muss den Großeltern in ihrer Gaststätte aushelfen, weil da um die Feiertage immer viel los ist. Hat ihm mächtig gestunken, aber ich kann auch gut alleine gehen.

Nach ungefähr zwei Stunden habe ich den Markt zehn Mal durchlaufen und hatte die Schnauze voll. Nach Hause wollte ich aber trotzdem nicht. Es gibt für mich manchmal Tage, da muss ich so viel nachdenken, dass ich keine Sekunde stillsitzen kann. Deshalb treibt es mich durch sämtliche Wohngebiete, Gassen und Hinterhöfe, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Dabei wohne ich schon hier, seitdem ich auf der Welt bin.
Ich finde interessante Orte. Hier und da Kinder, die im matschigen, grauen Schnee Figuren zusammenbauen und mehrlagig in dicke Winterklamotten eingepackt sind. Manchmal parkt hinter mir ein Auto in eine Garage oder ein Hund bellt mich hinter einem Gittertor an. Weil ich ununterbrochen unterwegs bin, wird mir nicht kalt. Von der frischen Winterluft fühlt sich mein Gesicht ganz taub an. Eigentlich mag ich den Winter nicht. Heute ist es ganz nett, aber das hätte ich nicht einmal denken dürfen.

Als ich um die Ecke spaziere, renne ich fast Johannes über den Haufen. Er steht da an der Mauer von irgendeinem Haus mit fünf anderen Typen und raucht. Einer der Typen ist Mike. Den anderen kenn ich nicht.

"Hey, guck mal, wer da nen Abendspaziergang macht!" flötet Johannes auch schon drauflos und wirft seine Kippe in den breitgelatschten Schnee. "Heute bist du wohl ohne die Amischwuchtel unterwegs?"

Er freut sich, dass ich allein bin. Tatsächlich wäre ich Tonys Anwesenheit jetzt sehr dankbar. Er hätte einen blödsinnigen Witz gerissen und im Handumdrehen dafür gesorgt, dass Johannes aufgeblähtes Ego ins Gras beißt. Tony hätte keine Angst. In Gedanken sehe ich ihn im Faltenrock an Johannes vorbeistöckeln und selbstgefällig grinsen.

"Kennst du den?" fragt einer der Typen, die dabei stehen. Er ist schwarz, ich glaube, den hab ich sogar schonmal irgendwo gesehen. Wahrscheinlich im Laden oder beim Zahnarzt oder so.

"Klar Mann, das ist der Nikolaus!" ruft Johannes übertrieben freudig, ohne den Typ anzuschauen. "Wir kennen uns doch, net war Nicky?" Erwartungsvoll schaut er mich an und in seinen Augen sehe ich ein drohendes Schimmern, das mich warnt, jetzt bloß nichts Falsches zu sagen. Mein Kopf bewegt sich zu einem schwachen Nicken. "Klar.." krächze ich, da wird mir schon gegen den Rücken gehauen.
"Sag ich doch." meint Johannes zufrieden. Seine Hand haut mir nochmal so derart aufs Kreuz, dass ich fast vornüberkippe. Das soll wohl irgendwie einer freundschaftlichen Geste nachkommen, denn er wirft noch ein "Guter, Alter Nikolaus." hinterher.
Niemand nennt mich wirklich Nikolaus. Nicht einmal meine Eltern, auch nicht meine Lehrer. Meistens nur Fremde, die meinen Namen irgendwo ablesen, in Wartezimmern zum Beispiel. Oder um mich zu provozieren. Ich weiß, dass das Johannes' Absicht ist. Er hat keinen Grund, nett zu sein. Das Grinsen, das ihm momentan an der Fresse klebt, ist in etwa so echt wie Hitlers Tagebücher.

"Dem Mike seine Alten sind aus der Bude." lässt er mich wissen und ich kann mir partout nicht erklären, was ich mit dieser Info anfangen soll. "Magst mit reinkommen?" Wieder grinst er mich an, fast wie ein Irrer, und als ich mir seine stecknadelkopfgroßen Pupillen genauer ansehe, kapiere ich endlich, dass er mächtig drauf ist auf irgendeinem Zeug.
Was ich vor dieser Entdeckung empfunden habe, ist schwer zu erklären, aber jetzt wird's mir schon anders. Johannes ist nüchtern ja schon kaum zu ertragen.
"Lieber nicht..." Man muss vorsichtig sein bei Leuten, dessen nächste Bewegung du nicht einschätzen kannst.

Tony wird die Welt retten Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt