Anarchy in the UK

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Am nächsten Tag geht es mir ein Stück besser. Das Frühstück im Hostel ist ganz in Ordnung. Es gibt allerlei Brot, Schinken, Käse, Obst, Müsli, Kaffe, Tee und natürlich Würstchen und Bohnen. Eigentlich hatte ich nicht vor etwas zu Essen, aber Beverly wirft mir einen drohenden Blick über den Tisch zu, der keinerlei Ausreden duldet, deswegen kaue ich lustlos auf einem weichen Stück Brot herum. Eine Tasse Schwarztee dampft neben meinem Teller vor sich hin.

Tony ist nirgends zu sehen und irgendwie ist das erleichternd und enttäuschend zugleich. Hauptsächlich aber enttäuschend. Erst recht, als mir auffällt, dass Lindsey ebenfalls fehlt.
Beverly und Chris essen und unterhalten sich munter über nichts besonderes.
Ich kann nicht anders, als darüber nachzudenken, was Tony und Lindsey so lange in Schach hält, ob sie gerade vielleicht gemeinsam das Frühstück schwänzen.
Ich erinnere mich daran, wie Tony die Lindsey zum Lachen gebracht hat, damals auf dem Bahnhof. Wie fasziniert er sie angeschaut hat, wie sehr sie seitdem an ihm hängt. Ständig stecken sie die Köpfe zusammen, schreiben sich auf Whatsapp und weiß der Kuckuck.

Garantiert haben die sich irgendwo verkrochen, vielleicht hinters Gebäude und machen rum, so wie das eine Paar damals auf dem Schulhof, als ich in der Fünften war und nur in Frieden mein Brot essen wollte und dieser Spacko aus der Zwölften hat sich mit seiner Tussi zum Rumknutschen immer genau den Platz herausgesucht, wo ich gerade stand. Die haben immer so getan, als ob sie mich nicht sehen würden. Manchmal bin ich woanders hingegangen, manchmal bin ich aus Protest dageblieben. Die Freundin von dem Spatzenhirn hatte am Pausenende immer ganz geschwollene Lippen vom Küssen und am liebsten hätte ich die geschwollenen Grinsen dieser zwei Dummschädel mit der Faust zerdroschen.

Ich weiß nicht, warum mich der Gedanke so kirre macht. Wenn Tony und Lindsey ein Paar sind, geht mich das einen Scheiß an. Als ich und Beverly zusammen waren, hat es plötzlich Hund und Sau interessiert, obwohl es auch die einen Scheiß anging, deshalb würde ich es Tony und Lindsey gönnen, wenn sie ihre Ruhe hätten. Ganz im Gegensatz dazu, wäre es mir dennoch recht, wenn sie nicht so eine elende Heimlichtuerei veranstalten würden, es sieht doch jeder, wie nah sie sich stehen.
Meine Gedanken drehen sich weitere hundertmal in fünf verschiedene Richtungen und dann packt mich etwas so heftig an der Schulter, dass ich fast rückwärts von der Bank gerissen werde.
"Moin, Nico!" dringt eine fetttriefende Stimme an mein Ohr.

Es ist Mike. Er ist übrigens nicht übergewichtig, aber seine Stimme klingt immer, als würde ihm garstiges Bratfett aus den Speicheldrüsen quillen. Seine Finger verkrallen sich schmerzhaft in meiner Schulter.
"Ich hab gehört, dich hat's gestern mächtig auf den Sack gelassen?"

Gar nicht erst reagieren. Bloß nicht reagieren.

Er hebt die Hand und klopft mir kräftig auf die Schulter. "Ja was los, Kiesing? Sagst du nicht Grüß Gott?" säuselt Mike und drei Tische weiter ist unterdrücktes Gelächter zu hören. Früher hab ich gedacht, höchstens mit sechzehn ist man raus aus dem Alter, wo sowas noch lustig war.

"Verpisst du dich bitte mal?" keift Beverly ihn an. Mike scheint seine Chancen abzuschätzen, mit Hinblick darauf, wie Beverly sich das eine Mal in Chemie auf Johannes gestürzt hat wie eine Raubkatze. Er muss zu dem Fazit gekommen sein, dass es sich nicht lohnt, denn er haut mir noch einmal übertrieben kumpelhaft auf die Schulter. "Nur keine Aufregung." sagt er und wandert wieder hinüber zu seinem Rudel.

"Was woll'n die Pisser immer?" wundert sich Chris und Beverly tippt mit den lackierten Fingernägeln vor mir auf die Tischplatte. "He du, alles gut?"

"Passt schon."

Tony und Lindsey tauchen doch noch irgendwann auf. Ich ertappe mich dabei, über die nicht geschwollenen Lippen erleichtert zu sein. Auf Beverlys Frage hin, wo zur Hölle sie sich herumgetrieben hätten, erzählt Lindsey, sie hätten die letzte halbe Stunde mit Meditieren verbracht.
Chris glotzt sie ungläubig an. "Ja echt jetzt?"
"Ja sicher, das ist wie ne Atempause für Geist und Gemüt." meint Lindsey vergnügt. "Ich versuch nur, dem Kerl hier beizubringen, wie man länger als fünf Sekunden still sitzt." Sie knufft Tony freundschaftlich in die Seite, er lächelt geschlagen und tätschelt ihr den Rücken.
Das Brot weicht ungekaut in meinem Mund auf.

Tony wird die Welt retten Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt