Kapitel 9

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June

Ich seufzte und kickte die leere Cola-Dose, die auf dem Bürgersteig lag, einige Meter von mir weg. Die Hände in den Hosentaschen meiner verwaschenen Jeans vergraben, holte ich erneut aus und trat schwungvoll gegen die Dose. Meine Gedanken schweiften wieder und wieder zum gestrigen Tag.

Es war schlimm gewesen. Mein Dad war zusammengebrochen. Mal wieder. Von dem Schmerz, von der verzweifelten Hoffnungslosigkeit, die er seit so vielen Jahren in sich trug. Er hatte von einem Augenblick auf den nächsten seinen Lebenswillen verloren - sein Leben hatte einfach aufgehört, Sinn zu ergeben. Und ich verstand ihn. Wir hatten alle das Gleiche durchgemacht und jeder von uns hatte eine andere Weise gehabt, damit umzugehen. Mein Dad ertränkte die Realität regelmäßig in Alkohol. Es machte ihn krank.

Nachdem er mich gestern in meiner Wohnung besucht hatte, um mich um Alkohol anzubetteln, hatte ich ihn zurück zu sich nach Hause gebracht. Jason und Ciel wussten zwar über meine schwierige Familiensituation Bescheid, aber ich hatte es für die bessere Entscheidung gehalten, ihn nicht bei uns in der Wohnung auszunüchtern. Außerdem hatte ich wissen wollen, ob es stimmte, was Dad erzählt hatte. War Amelia zurückgekehrt? Einfach so? Auch wenn ich keine Ahnung gehabt hatte, wie ich meiner Schwester gegenüber treten sollte, wenn sie wirklich wieder da wäre.

Als Dad und ich vor dem riesigen Wohnhaus in Manhattan, in dem sich ganz oben unser Apartment befand, aus dem Taxi ausgestiegen waren, hatte er sich kaum noch auf den Beinen halten können. Nachdem er sich in eine Hecke am Rande des Bürgersteigs übergeben musste, hatte ich ihn durch die Eingangstür zerren müssen und in den Aufzug bugsiert. Es war nicht so, als wäre das etwas Neues für mich. Traurigerweise war es schon zu einer Art Routine geworden.

Als ich die Tür zu unserem Loft geöffnet hatte, war mir nicht wie üblich der nur zu gut bekannte Geruch von Alkohol und Erbrochenem in die Nase gestiegen. Stattdessen hatte es angenehm nach frischem Putzmittel gerochen. Das sonst so chaotische und zerstörte Loft, war erstaunlicherweise...sauber. Glasscherben, zerbrochenes Geschirr und kaputte Bilderrahmen – alles fort.

Ich wusste, dass dies definitiv nicht das Werk meines Vaters gewesen sein konnte. Die Putzfrau hatte er schon lange rausgeschmissen. Es konnte folglich nur meine Schwester gewesen sein.

Amelia war wirklich aus Europa zurück. Und sie hatte direkt versucht, alles zu beseitigen. Alles Kaputte, alles, was in unserem Leben so kläglich zerbrochen war. Sie hatte versucht, die Spuren aus unserer Vergangenheit zu verwischen, indem sie ihre Auswirkungen in der Gegenwart ignorierte und diese ungeschehen machen wollte. Es hatte mich so wütend gemacht.

Nachdem ich meinem Dad dabei geholfen hatte, sich auf die übergroße Couch zu legen, auf der ausnahmsweise mal nicht ein Dutzend leerer Flaschen herumlagen, hatte ich mich auf die Suche nach meiner Schwester begeben.

Es hatte mich rasend gemacht, dass sie einfach so hier aufgetaucht war und dachte, sie hätte das Recht dazu, sich in unser Leben einzumischen. Welches sie damals doch so unbedingt verlassen wollte! Wie konnte sie es wagen, jetzt einfach so zu tun, als wäre unsere so verdammt kaputte Familie noch heil? Als würde es die Wahrheit verbergen, wenn sie Dad hinterherräumte. Es war, als würde man nur die Symptome bekämpfen, nicht aber die Krankheit selber.

Ich konnte Amelia im Schlafzimmer meiner Eltern auf dem Boden finden. Um sie herum war der ganze Boden mit Kleidungsstücken übersät gewesen. Die Klamotten meiner Mum. Als ich Amelia erblickt hatte, konnte ich mich nicht vom Fleck rühren. Wie angewurzelt hatte ich im Türrahmen gestanden und hatte meine kleine Schwester betrachtet, die sich einen von Mums Strickpullis an die Brust gedrückt hatte.

Wie ein Häufchen Elend war sie zwischen den Wäschebergen versunken. Mein Herz hatte sich schmerzlich zusammengezogen, als ich erkannte, dass sie geweint hatte. Ihre Haare, die früher lang und dunkelbraun gewesen waren, trug sie jetzt kurz und mit einem Pony, der ihr Gesicht zu verstecken schien. Das dunkle Braun war einem matten Rosaton gewichen.

PetrichorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt