Kapitel 10

68 9 21
                                    

Ella

Die Wolken türmten sich nur so über New York auf. Blitze durchzuckten hin und wieder den dunkelgrauen Himmel. Das darauffolgende Donnern ging nahezu vollkommen im Lärm der Stadt und den prasselnden Regentropfen unter.

Dieses Schauspiel war einfach magisch. Gewitter hatten einen ganz speziellen Zauber. Ich liebte Regen, vor allem den unbeschreiblich tollen Geruch, der diesen ankündigte. Jedoch war es mir lieber, wenn ich selbst im Trockenen war und von dort aus dem Unwetter beim Toben zusehen konnte.

Ich war seit gut einer halben Stunde unterwegs zur Uni und war mittlerweile völlig durchnässt. Zwischendurch hatte ich Unterschlupf in einem Café am anderen Ende des Campus gesucht, um mir einen heißen Kaffee zu holen, bevor ich mich wieder dem tosenden Unwetter gestellt hatte. Ich presste meine bunt bestickte Leinentasche, in der sich unter anderem auch mein Laptop befand, enger an meine Brust und bedeckte sie so gut es ging mit dem quietschgelben Regenmantel. Als der Regen immer stärker auf mich herabprasselte, fing ich an, noch schneller zu gehen und stieß dabei unbeabsichtigt gegen etwas Hartes. Mein Kaffeebecher mit der heißen, duftenden Flüssigkeit darin, den ich soeben noch in meiner linken Hand gehalten hatte, entglitt  meinen Fingern.

"Verdammt!", fluchte ich, als ich die braune Pfütze betrachtete, die sich zu meinen Füßen ausgebreitete. Der Regen spülte den Kaffee zwar sofort vom Teer, meine neuen weißen Chucks hingegen waren leider hinüber.

Als ich aufsah, erkannte ich, dass dieses harte etwas ein menschlicher Rücken war.

„T-tut mir leid", stotterte ich im nächsten Moment. Ich bemerkte, dass ein paar Zettel und ein Buch der Person, die ich soeben versehentlich angerempelt hatte, auf dem nassen Asphalt gelandet waren. Hastig bückte ich mich und versuchte zu retten, was noch zu retten war.

Ich blickte auf und meine Augen trafen auf zwei tiefblaue Augen, die mir mittlerweile nur allzu bekannt vorkamen. In letzter Zeit begegneten wir uns wirklich auffällig oft. Nicht, dass es schon genug gewesen wäre, dass ich meinen gestrigen Sonntag damit verbrachte hatte, mit Amy, Maddie und ihrem Freund June viel zu viele schnulzige Liebesfilme anzusehen. Jetzt rannte ich direkt am nächsten Morgen in ihn hinein und übergoss ihn mit meinem heißgeliebten Kaffee.

Eilig drückte ich June die vom Regen durchweichten Papierfetzen mitsamt dem Buch in die Hand.

„Macht doch nichts, Ella." Die Art und Weise wie er meinen Namen aussprach, verursachte einen kurzzeitigen Aussetzer meines Gehirns. Himmel, warum war seine Stimme so sanft und gleichzeitig so rau und tief?

„Ich- äh...hey?" Mir gelang es nicht, einen anständigen Satz zu formulieren. Meine Gehirnzellen waren soeben zu Matsch geworden. Ich atmete einmal tief ein und schloss für einen Moment die Augen. Der Regen half mir ein wenig dabei, das Chaos aus meinem Kopf zu spülen.

Als ich wieder aufsah, bemerkte ich, dass June mich immer noch ansah. Er hielt meinen Blick mit seinen Augen fest und sorgte augenblicklich dafür, dass meine Knie sich anfühlten, als wären sie aus Pudding.

Erneut fasste ich mich kurz und brachte dann endlich Worte heraus.

„Also ehm - sorry nochmal...wegen der Regenpfütze... Ich meine...Kaffeepfütze. Wie auch immer, 'tschuldige, dass ich dich angerempelt habe. Ich sollte jetzt gehen." Ich zeigte etwas unbeholfen auf die Regenwolken über uns. „Vorlesung in fünfzehn Minuten", fügte ich kurz angebunden hinzu und versuchte so gut es ging seine Augen zu meiden.

Es machte mich wahnsinnig, dass er nichts sagte. Stattdessen schien er Spaß daran zu haben mich wie ein Psychopath anzustarren. Erst jetzt fiel mir auf, wie verdammt gut ihm sein schwarzes Sweatshirt stand. Es spannte etwas über seiner offensichtlich gut durchtrainierten Brust. Seine blonden Locken waren vom Regen feucht geworden und klebten ihm teilweise an der Stirn, sodass ich den Drang unterdrücken musste, diese aus seinem Gesicht zu streichen. War das ein Lächeln, das seine geschwungenen Lippen da andeuteten? Ob sie wohl so weich waren, wie sie aussahen? Es sollte...nein, es durfte mir nicht so schwerfallen, meinen Blick einfach wieder von seinen Lippen los zu reißen! Zum Teufel mit dir Ella, was ist bloß in dich gefahren? Bei dem Gedanken daran, dass ich June gerade eine halbe Ewigkeit lang auf die untere Gesichtshälfte gestarrt hatte, schoss mir die Röte nur so in die Wangen. Was fiel mir eigentlich ein? Immerhin war er vergeben und zufälligerweise war die Glückliche meine neue Mitbewohnerin.

PetrichorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt