Kapitel 1

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Ella

„Amy!", rief ich genervt durch die Wohnung. Keine Antwort. „Amyyy", schrie ich, dieses Mal noch ein Stück lauter.

Wieder keine Reaktion. Schnaubend starrte ich auf das Chaos, was eindeutig meine Mitbewohnerin und demnächst ehemalige beste Freundin Amy nicht zum ersten Mal in unserer WG-Küche hinterlassen hatte.

„Schrei doch nicht so, ich komm ja schon!", murmelte meine Freundin missmutig und betrat schlurfend und im Schlafanzug die Küche.

Trotz ihrer bescheidenen Größe war die Küche das absolute Herzstück unserer WG. Es war überhaupt schon ein Wunder, dass man in New York eine Wohnung mit separater Küche bekam und nicht nur irgendein Studio-Apartment!

Wie unsere ganze Wohnung war auch sie in dem typischen, alten New Yorker Stil gebaut. Wenn man sie betrat, stach einem sofort die schöne, schon etwas in die Jahre gekommene Backsteinmauer in den Blick, die sich gegenüber von der in weiß gehaltenen Küchenzeile durch die Wand zog. Davor hatten wir einen kleinen runden Esstisch mit drei Stühlen gestellt, dem ich nun einen bitterbösen Blick zuwarf, auch wenn er natürlich keine Schuld daran trug, dass er mit Flaschen zugestellt war, die bis vor wenigen Stunden noch mit hochprozentigem Alkohol gefüllt waren. Dieser Gedanke holte mich zurück in die Realität.

„Fräulein, hast du heute schon mal einen Blick auf die Uhr geworfen?!"
Ich stemmte die Hände in die Hüften. Himmel, ich hörte mich ja an wie meine eigene Mutter!

Amy kramte ihr Handy aus der Hosentasche ihrer Pyjamahose, warf einen kurzen Blick darauf, ließ es zurückgleiten und zuckte dann nur einmal kurz mit den Achseln.

„Was denn?", kam es von ihr zurück. „Es ist ja noch nicht mal 13 Uhr!" Ich rollte mit den Augen und wandte mich wieder den Bergen an Tellern, Besteck und Gläsern zu. Den Überresten des gestrigen Abends, den meine Mitbewohnerin, die im Moment ziemlich verloren und etwas neben der Spur im Türrahmen stand, ausgiebig mit bestimmt fünfzehn Freunden gefeiert hatte.

Ich musterte Amy einen Moment lang. Ich ließ das Glas, das ich soeben spülen wollte, ins Waschbecken zurückgleiten, ging wortlos zur Küchenzeile, öffnete das oberste Regal und zog eine Packung mit Tabletten hervor. Nicht ohne einen Blick, der ihr ganz eindeutig vermitteln sollte: „Meine Güte Amy, wie kann man nur so verantwortungslos sein!" reichte ich sie Amy, dazu ein Glas Wasser.

Anschließend widmete ich mich wieder der Spüle. Ich konnte hören, wie sie langsam tapsend den Raum verließ, ein paar Sekunden später fiel die Badezimmertür mit einem Knall ins Schloss.

Das geschah ihr nur recht! Auch wenn ich ein klein wenig Mitleid mit meiner besten Freundin verspürte, musste ich insgeheim zugeben, dass sie diesen Kater meiner Meinung nach mehr als verdient hatte! Wer kam auch auf die unglaublich geniale Idee an einem Dienstag mitten im Semester eine Hausparty zu veranstalten und sich dann auch noch komplett zulaufen zu lassen?

Kein Wunder, dass Amy heute absolut nicht in der Lage war, in die Uni zu gehen – ich im Übrigen ebenfalls nicht; ich musste ja dieses blöde Chaos beseitigen!

Gut, das war zugegebenermaßen vielleicht nicht der wahre Grund, warum ich heute geschwänzt hatte. Der zweite und viel schwerwiegendere Grund war, dass ich schlicht und ergreifend keine Lust dazu hatte.

Ich studierte zurzeit Jura und mein zweites Semester hatte vor ein paar Wochen begonnen. Um ehrlich zu sein, wusste ich auch nicht, wie ich das überhaupt so lange ausgehalten hatte, aber nun war ich an dem Punkt angelangt, an dem meine innere Stimme mir klar und deutlich signalisierte: „Es reicht! Du solltest endlich abbrechen!"

Es machte mir einfach keinen Spaß, das hatte es auch nie.

Aber ich konnte nicht. Ich konnte einfach nicht aufhören, auch wenn ich es noch so sehr wollte. Ich durfte nicht. Meine Eltern würden so enttäuscht von mir sein, dass ich es vermutlich niemals mehr wagen würde, ihnen in die Augen zu blicken. Dennoch gönnte ich mir den heutigen Tag. Ich brauchte nur mal einen einzigen Tag nur für mich, eine klitzekleine Auszeit von der Realität. Wirklich viel verpassen würde ich nicht, die Vorlesungen waren sowieso total langweilig und man konnte alles ganz easy nacharbeiten.

PetrichorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt