Der Rabe und der Knochen

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(Yokohama, Donnerstag um 08:55 Uhr)

Die Straßen Yokohamas waren von vielen Leuten bevölkert, die im geschäftlichen und privaten Treiben aneinander vorbeizogen.
Nur selten warfen sich die Menschen Blicke zu und wenn, dann waren die Augen schnell wieder auf ein anderes Ziel gerichtet.
Wie die Wellen des Meeres, das an Yokohamas Hafen andockt, schaukelten die Köpfe der Menschen in der Eile umher.

Osamu Dazai schlüpfte elegant durch eine sich gefährlich schnell schließende Lücke zwischen zwei Männern hindurch und näherte sich einer Ampel. Bunte Autos, die mehrheitlich viel zu schnell den Straßenübergang überquerten, kreuzten seinen Weg. Durch die dunklen Scheiben, die die sämtlichen Lichter der zahlreichen Reklametafeln reflektierten, sah man von den Insassen der Autos nur undurchsichtige Schatten.

Ein tiefschwarzer Rabe landete im Sinkflug auf dem Ampelpfahl und ließ leichtfertig eine Nuss aus seinem stahlähnlichen Schnabel auf die Straße fallen. Die schweren Gummireifen der Autos zerbrachen die Schale mit Leichtigkeit und die Füllung wurde förmlich herausgeschleudert. Das Innere der Nuss landete auf einem Teil der Fahrbahn, wo nur äußerst selten ein Reifen den Boden berührte.
Das Schnarren der Ampel, das stets den Wechsel von der Rotphase zur Grünphase angab erfüllte die geschäftige Luft.
Stöckelschuhe von Frauen begegneten geräuschvoll dem Asphalt der Straße und die schlurfenden Schritte von Männern folgten jenen.

Dazai jedoch, starrte auf die herausgelöste Nuss, über die sich nun ein Schatten legte. Der Rabe setzte geschickt zum Landeanflug an, indem er den Beinen und Rädern der Menschen auswich. Als er die Nuss wie eine Zange mit dem stahlähnlichen Schnabel gepackt hatte, sprang der Vogel hoch und katapultierte sich mit seinen Schwingen weiter in die Luft Yokohamas davon. Nur eine dunkle Feder, die sich langsam auf die Köpfe der Menschen niederließ, kundete von seiner Anwesenheit.

Osamu Dazais Gedanken blieben an dem Bild der überrollten und zerquetschten Nuss kleben.
Er hatte sich seit dem Umschalten zur Grünphase nicht bewegt und die Körper der Leute drängten und zwengten sich ärgerlich an ihm vorbei.
"Hach! Wie schön wäre es einfach durch eine höhere Macht überrollt zu werden? Wenn der eigene Kern nach Außen bricht und jemand sich daran erfreuen würde. Genauso wie dieser Rabe an der Nuss!"

Ein kleinerer Junge, der schon die ganze Zeit hinter Dazai stand, tippte ihm nun gegen die Schulter.
"Ich glaube niemand würde sich darüber erfreuen, wenn dein ganzer Körperinhalt auf der Straße verteilt wäre. Was soll der Fahrer tun?
Und wer soll das dann alles wegmachen?"

Melodramatisch fuhr sich der Mann an seine Stirn und schob seine braunen Haare beiseite. Der Junge gab ihm einen kleinen Schubs und Dazai setzte sich endlich in Bewegung. Kurz bevor sich die Phasen der Ampel erneut abwechselten, hatten die beiden die Straße überquert.
"Ah, Atsushi. Nichts geht über einen sauberen Selbstmord! Dennoch bin ich neidisch auf diese Nuss."

Der hellgrau-haarige Junge hielt sich die Hände lachend vor den Mund.
"Neidisch auf eine Nuss? Was redest du denn Dazai?"
Beleidigt wandte Dazai seinen Blick von Atsushi ab und schaute gelangweilt auf seine Mitmenschen, die ihm alle komplett gleichgültig waren.
"Sind wir hier nicht richtig?", fragte der Junge als die beiden vor einem großen Einkaufscenter standen. Gelangweilt steckte Dazai seine mit weißen Bändern umwickelten Hände in die Taschen seines Mantels und gab immernoch beleidigt nur widerwillig Antwort: "Ja, kann sein."

Etwas genervt schlug Atsushi dem älteren Kollegen seinen Arm in die Seite. "Dann komm! Kunikida wird sonst wütend, wenn du ihm nicht seinen Anzug ersetzt."
Doch Dazai hob nur seinen Arm und scheuchte den Jungen abweisend in den Laden.
"Keine Lust! Mach du das mal allein. Ich suche derweil eine schöne Frau unter den Leuten der Straße, die mit mir Doppelsuizid begehen möchte."
Komplett fasziniert von seiner eigenen Idee, fasste Atsushis Mentor neue Motivation und war bereits in der Menschenmasse verschwunden.

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